Der Umweg nach Santiago
eingeschlossen.
In der Beschreibung dieser Landstriche muß man häufig zum Wort »leer« greifen, daran läßt sich nichts ändern. Die Michelin-Karte 42, Spanien, zeigt es deutlich: Wenn man bei Pitillas die rote N 121 verläßt, fährt man auf der dünnen, gelben C 124 weiter, die bei Carcastillo den windungsreichen Fluß Aragón überquert. Darunter ist auf der Karte alles weiß, und weiß heißt leer. Keine Straßen, nur ein paar Gipfel wie zum Beispiel Los Tres Hermanos (Die drei Brüder), Balcón de Pilatos und die Ruinen des Kastells Doña Blanca de Navarra. Warum heißen die drei Brüder die drei Brüder? Sind es vielleicht drei Gipfel? Sind dort drei Brüder umgekommen? Rätsel, und keiner kennt die Antwort. Das berühmte Trappistenkloster von Oliva liegt in der Nähe vonCarcastillo, aber auch das besagt nichts. Es liegt nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft irgendeines Ortes, es ist ein strenger Zisterzienserbau, in dem nun schon seit fast 1000 Jahren Mönche leben. Als ich darauf zufahre, sehe ich sie mit Harken über der Schulter im Gänsemarsch übers Land ziehen. Mein Auto schmilzt unter mir weg, Telegrafenmasten fallen um, der idiotische Turm, den sie im siebzehnten Jahrhundert an die Kirche angebaut haben, stürzt ein, ich stehe in groben Lumpen auf einer Landstraße und sehe noch immer, was ich sehe, eine mittelalterliche Prozession von Männern in flatternden Kutten, die jetzt um die Ecke des Klosters verschwindet. Ein dünnes Glöckchen beginnt zu läuten, aber die Klänge werden vom Wind weggeworfen. Früher einmal, in einem anderen und doch demselben Leben, wollte ich Trappist werden. Ich besuchte damals häufig die Einsiedelei »Achelse Kluis« im niederländisch-belgischen Grenzgebiet. Nachts um zwei wurde ich zum Chorgebet geweckt, und diese gespenstischen schweigenden weißen Gestalten bei ihrer Meditation, die später zwischen den gegenüberstehenden Chorbänken hin und her hallenden lateinischen Gesänge, die alles verzehrende Stille in der Bibliothek und die Vorstellung, für alle Zeit an ein und demselben Platz bleiben zu müssen ( stabilitas loci ), bewirkten bei mir die Gewißheit: Hier mußte ich hin, und zwar schnell. Ich meldete mich beim Abt, küßte seinen Ring und teilte ihm meinen Entschluß mit. Er zeigte sich nicht gerade überwältigt, ging aber an einen Schrank, nahm das Leben des Petrus Abaelardus – auflateinisch – heraus und gab es mir zusammen mit einem Bleistift, einem lateinischen Wörterbuch und einem Schreibblock. »Dann übersetz das erst mal«, sagte er. »Wenn du damit fertig bist, sehen wir weiter.«
Andere Menschen haben mich immer besser gekannt als ich mich selbst. Derjenige, der sein Leben lang an einem Ort bleiben wollte, reist jetzt durch die ganze Welt (»mein Kloster ist die Welt«, sagte Harry Mulisch, als wir später einmal gemeinsam in diesem Kloster waren), und doch, irgendwo in diesem Kämmerchen (Stuhl, Tisch, Holzwände, alles fahl und bleich) inder Achelse Kluis liegt das Leben des Petrus Abaelardus noch immer auf Seite zehn aufgeschlagen, und jedesmal, wenn ich ein Trappistenkloster betrete, befällt mich wieder ein heiliger Schauer.
Es gibt ein berühmtes Gedicht von Gerrit Achterberg, »Ichthyologie«, das mit den folgenden Versen beginnt: »Ein Coelacanthus ward im Meer gefunden / das Missing link zwischen zwei Fischen. / Der Finder weinte vor Verwunderung. / Vor seinen Augen lag, zum erstenmal verbunden, / die lang gerissene Kette der Evolution.« Als man diesen Fisch mit Füßen entdeckt hatte, war die Rangordnung aufgedeckt zwischen »Mensch und Eidechse und von der Eidechse tief im Staub, weiter als unsere Instrumente reichen«. Der Schluß des Dichters lautet: »Nach dieser Entdeckung dürfen wir tun, / als wär’ die Reih’ nach oben hin die gleiche, / als könnten wir Gott auf die Tafel sehen.«
Daran mußte ich im kalten Oliva-Kloster denken, während ich vor der Fassade der Kirche stand. Nicht, daß ich vor Verwunderung weinte, aber immerhin, es war das Gefühl, das einen überkommt, wenn man plötzlich ganz klar sieht (oder zu sehen glaubt), wie alles zusammenhängt. Aber was glaubte ich denn nun zu sehen? Ich wage es kaum zu sagen, aber ich glaubte die Geburt der Gotik zu sehen. Wieder schmolz die Zeit und entfloß, und genau dort, wo ich stand, passierte es. Über dem Haupteingang der Kirche ist ein romanischer Bogen errichtet, oder besser gesagt, ein gebogenes Steinrelief in der Fassade, bestehend aus dreizehn parallel
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