Der Umweg nach Santiago
sehe ich erst, als eine Gruppe ganz kleiner Mädchen in Sevillaner Tracht um die Ecke biegt.
Von allen Seiten kommen sie jetzt, goldene Legionen für die Knabenliebe, ernst dreinschauende Jungen unter der Last des Kreuzes, ihre Fußballerkörper unter Mönchskutten verborgen. Jede Gruppe hat ihre eigene Platte, ihre eigenen Symbole. Die armen Körper, die zu den Füßen unter den Platten gehören, müssen vor Hitze umkommen. Dies ist noch Katholizismus, freilich von der fanatischen, flagellantischen Sorte, fremd und bösartig,extrem wie die Hitze und die Landschaft Andalusiens. Ich flüchte in die Kathedrale, wohin das Getrommel und Geklapper mich wie ein fernes Gewitter verfolgt, stundenlang.
Was macht man bei vierzig Grad? Dasselbe, was die Sevillaner tun: Seufzen und warten, bis es Abend wird, Kühle suchen in Gärten und Kirchen, am Guadalquivir entlangspazieren, aber ganz langsam, bis die Dunkelheit sich wie ein schwarzes Tuch über die Stadt und den Fluß legt, über den achteckigen Turm, von wo aus die Schiffe in die Kolonien fuhren, über die Palmen und Rosen, die Lilien und die Zypressen in den Gärten des Alcázar. Dann wird es kühl in den Gärten. Murmelnde Stimmen und murmelndes Wasser, gekappte Säulen und geschorene Hecken, brummelnde Frösche auf den Seerosenblättern, Flüstern und Scharren von Füßen, echte Blumen und Arabesken-Blumen, Buchstaben, die sich im Reiseführer aneinanderdrängen und ein grauer Fleck nicht greif baren, bedeutungslosen Textes werden. Die Wege sind mit Blütenblättern bestreut wie für eine große Hochzeit. Ein Vogel, der noch nicht gemerkt hat, daß es Nacht wird, pfeift das ausgestorbene Lied vom Metzgerjungen. Hier schwebt ein Duft anderer Klimazonen, als müßte es so sein, als mußten die Spanier zwischen der Erinnerung an Huris und arabische Fürsten zwangsläufig in einer einzigen Bewegung die Tropen entdecken, eine logische Folge.
Trujillo, Sevilla. Die harten Männer kamen aus Trujillo, ihr Erbe, das Nachlaßverzeichnis liegt in Sevilla, im Archivo General de las Indias. Wenn die Uhr, das Stundenglas, der Totenkopf in der Hand des Mönchs Symbole der verrinnenden Zeit sind, so ist das Archiv ein weit gespalteneres Sinnbild. Vorbei und doch bewahrt. Gebundene, niedergeschriebene, mit Fäden zugeschnürte Zeit, ganze Säle voll, Schränke voll bis an die Decke. Ein besseres Gebäude als diese unter Philipp II . erbaute Lonja (Börse) hätten sie dafür nicht wählen können: ein granitener, von Löwen bewachter riesiger Eisschrank, in dem die koloniale Vergangenheit, jeder Seufzer und jedes Komma, bis zum Ende der Welt auf bewahrt wird.
Langsam steigt man die breiten Marmorstufen hinauf, bis dorthin, wo in einem großen Raum ein Wächter wie Mussolini an seinem Schreibtisch sitzt. Er schreibt den Namen des Besuchers auf, als werde der nun selbst zur Geschichte gefügt, und schon steht man in einem großen Saal, in dem jeder verfügbare Meter Wand mit dicken dunkelbraunen Mappen bedeckt ist, die an der unsichtbaren Rückseite zugebunden sind. Ich frage, ob ich mir eine Mappe ansehen darf, aber ich darf nicht, das geht nur in besonderen Räumen mit besonderer Genehmigung. Gelehrte aus aller Welt kommen hier forschen, schnüffeln, geheimnisvolle Detektivarbeit verrichten, denn in diesen Mappen steckt, nach Kolonien, nach Epochen geordnet, alles. ALLES : Grundbücher, Bittschriften, Urteile, Befehle, Baubeschreibungen, Berichte von Feldzügen, Briefe von Gouverneuren, Schiffsjournale, Volkszählungen oder was sich so nannte, Verhandlungsprotokolle, Stadtpläne, Karten. So muß das Gedächtnis Gottes aussehen, jeder Zentimeter und jede Minute von jedem Ort und jedem Menschen beschrieben und bewahrt.
Gerade als ich in diesem Saal bin, denkt Er kurz an Santo Domingo, und mein Finger berührt Seinen Gedanken und fährt über Mappe 744 der Sección Quinta, Audiencia de Santo Domingo , doch über mir, bis dorthin, wo ich sie nicht mehr entziffern kann, gehen die Nummern weiter. Und das ist erst dieser Saal, diese eine Insel. Andere, größere Säle bergen in Gestalt von Spinnenschrift und farbiger Karte, Soldatenbrief und Buchhalterbericht die Erinnerung an Peru, Chile, Kuba, Neumexiko, Florida und all das, was die Spanier in ihrem nun für alle Zeiten attestierten Irrtum für Indien hielten.
Und so wandere ich an ihnen vorbei, an den geschlossenen Jahrhunderten und Sekunden, mit dem Gefühl, daß es eigentlich unmöglich ist. Um dem Besucher wenigstens eine kleine
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