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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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gleiche, sagen die Scheibenwischer, und es wirkt wie eine Gebetsmühle, das gleiche, das gleiche.
    Olite. Der spanische Staat hat hier im Burgschloß der Könige von Navarra einen seiner Paradores eingerichtet. An diesem leergefegten Wintertag bin ich der einzige Gast.
    Erst wenn man auf eine historische Karte Spaniens schaut, wird einem bewußt, wie alt dies alles ist. Zu Beginn des neunten Jahrhunderts reichte das Emirat Córdoba bis zum Ebro und stellenweise darüber hinaus. Die Navarresen verteidigten ihre Unabhängigkeit erbittert sowohl gegen den moslemischen Emir, der fast ganz Spanien im Griff hatte, als auch gegen Karl den Großen.
    Jahrhundertelang bleibt Navarra unabhängig, und unter Sancho dem Großen (1000-1035) erstreckt sich das Königreich sogar von Katalonien bis nach León in Asturien, doch nach seinem Tod setzt der Abbröckelungsprozeß ein, und von 1234 bis 1512 herrschen französische Dynastien in dem Königreich am Fuße der Pyrenäen.Als die Burg, in der ich jetzt wohne, 1406 unter Karl III . erbaut wird, ist die Geschichte Navarras bereits so alt, daß sein Ursprung irgendwo vor 700 im Nebel verschwindet: Die ersten Könige waren große Viehzüchter mit eigenen kleinen Heeren. Der Parador nimmt nur einen Teil des großen, merkwürdig angelegten Kastells ein. Hohe Mauern aus sandfarbenem Backstein, fünfzehn Türme, die den Rest des Dorfes niederschmettern. Es wurde von französischen Baumeistern aus dem Norden und von maurischen Handwerkern erbaut. Einst haben hinter diesen trutzigen Mauern Gärten gehangen , doch selbst der Gedanke daran ist verschwunden. Heute fegt ein böser Wind über die Ebene, ein Wind, der von weit her kommt und unterwegs niemandem begegnet ist. Mit peitschendem Regen schlägt er an die Mauern, ich gehe durch die leeren Straßen des Dorfes und frage mich, ob hier Menschen wohnen. Das Dorf selbst liegt in dieser Ebene wie eine Münze auf einem Bürgersteig, der Wind spielt darauf wie auf einer Flöte. Nein, es ist kein Feiertag in Olite.
    Dies ist einer jener merkwürdigen Nachmittage, an denen man etwas entdeckt. Weil man sein Leben so seltsam gestaltet hat, daß es sich vom Leben anderer Menschen unterscheidet, sieht man etwas, was sie an diesem Nachmittag nicht sehen. Nichts, was noch nicht dagewesen wäre, es war immer schon da, aber es braucht einen alten Mann dafür und große Schlüssel, und man sieht es allein , man hat das Gefühl, daß man belohnt wird, weil man allein da ist, weil die eigene Eigenartigkeit einen dazu geführt hat, an diesem verkehrten, jämmerlichen, von Regen und Wind gestraften Tag in diesem vergessenen Dorf zu sein, deshalb darf man heute, und niemand sonst, etwas aus den Fängen der Zeit ziehen.
    Der alte Mann, den ich geholt habe, damit er die königliche Kapelle aufschließt, zündet ein paar Lichter an, damit ich es besser sehen kann: ein hohes Retabel am Hauptaltar rund um eine gotische Madonna. Es hat etwas Eigenartiges auf sich mit all diesen kleinen Bildern – die Gesichter wirken abwesend, angefressen. Zwei Männer, die dreischwänzigen Peitschen hoch erhoben,schlagen Christus, der an eine Säule gebunden ist. Sie halten den Strick, mit dem er gefesselt ist, lose in ihrer Linken. Der Geschlagene macht ein Gesicht, als würde er nicht geschlagen, es sind auch keine Wunden zu sehen. Sein Blick ist etwas leer und betrübt, auf einen Punkt im Raum gerichtet, wo er meinen Blick kreuzen muß. Mehr nicht. Ein begieriger Zuschauer klammert sich mit beiden Händen an einer Säule fest, aber ein kleiner Hund, ein abscheuliches pekinesenähnliches Tier, schläft zu Füßen Christi, als wolle es die Aufmerksamkeit auf deren völlig unmögliche Stellung lenken. Ein Fuß zeigt nach vorn, der andere, zur Hälfte unsichtbar, nach hinten. Ich schaue in all die Augen, die meinen ausweichen, nur der maurische König, ein Mohr in schwarzen Samtpantoffeln und mit senkrechten gelbschwarzen Streifen an den Strümpfen, sieht mich an, als wären er und ich die einzigen, die etwas damit zu tun haben, der Rest – Weise, Soldaten, Könige, Märtyrer – befindet sich in einer stillen, abgewandten Welt, als wüßten sie bereits, daß die Zeit das Drama, das sie hier darstellen, immer ungültiger machen wird, daß sie einmal von Menschen betrachtet werden, die nicht mehr wissen, was sie darstellen, als wollten sie sich gegen ihren Wandel vom Lehrstück zum Kunstwerk wehren und hätten sich darum in der Echtheit der Anbetung und des Leidens

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