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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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zu dem romanischen Bogen laufenden Bögen, die nach außen zu jeweils ein kleines Stück weiter vorkragen: ein Miniportal. Aber es geht um die Bögen: In dem vollendet romanischen Bogen ist am Scheitelpunkt eine winzige Andeutung von Knick zu erkennen, etwas fast Versehentliches, eine Aufwärtsbewegung, die im allerersten Ansatz versteinerte und so still steht wie eine Rakete, die kurz nach dem Start dicht über der Erde fotografiert worden ist. So gering der Knick aber auch sein mag, er ist gleichzeitig der Bruch mit allem Vorangegangenen, nie mehr kann die gebogene Linie danach vollendet sein, vonnun an kann dieser Knick nur noch der Linie entfliehen, höher und höher hinauf, bis er der gotische Bogen von Amiens oder Chartres geworden ist. Kalt und verregnet stand ich da und starrte auf diese Bögen, und keine hundert Gelehrten mit Bullen und Baretten hätten mich davon abbringen können, daß es dort und nur dort passiert war, oder, äußerstenfalls, auch an anderen Orten, freilich nirgends so klar, so beispielhaft.
    Professor Michelin mit seinen kurzsichtigen Augen hatte es natürlich wieder nicht gesehen und murmelte etwas von den »Übergangsbauten, die die Zisterzienser im dreizehnten Jahrhundert errichtet haben und die noch von romanischen Konzeptionen geprägt sind «, aber ich weiß es besser, es geschah heute und hier und ich war dabei. Ich gehe noch ein wenig in der polaren Kirche umher, in der alles dunkel ist. Eine schwermütige Taube fliegt mit Post von Säule zu Säule. In einem der Seitenschiffe liegt Sand anstelle von Steinplatten, da sind Löcher und Stützpfosten, und ich denke an die Mönche, die sich hier nachts zum Chorgebet versammeln, und erschauere, diesmal vor Kälte.
    Gegen Abend komme ich nach Sos del Rey Católico, wo ich im Parador des Katholischen Königs übernachten werde. Szenarium für einen Reisenden. Auto auf verlassener Landstraße. Hereinbrechende Nacht. Dorf auf einem Hügel. Auto verläßt Landstraße und fährt die engen Windungen hinauf zur Burg. Tief unten die Ebene, vom Schlagregen gepeitscht. Mann im Auto zögert, ob er hineingehen soll. Es sind keine anderen Autos da. Dann ermannt er sich und läßt den schweren Türklopfer gegen die hohe Holztür fallen.
    Der Portier, in grauer Uniform, erwacht aus seinem Stupor. Der Wind jammert im hohen Schornstein. Ich bin schon wieder der einzige Gast. Ich folge dem Portier durch die Korridore. Steinfußboden. Bäuerliche Möbel. Rustikale schmiedeeiserne Lampen. Gewebte Vorhänge. Kein Radio. Kein Fernseher. Keine Nachbarn. Die Stille, die durch mein Eintreten auseinandergefallen war, baut sich wieder auf und schließt sich um mich.
    Ein paar Stunden später gehe ich hinunter. Kein Mensch zu sehen. Ich finde den Speisesaal. Zwei Mädchen aus dem Dorf, graue Kleider, weiße Schürzen, sehen zu, wie ich unter dreißig leeren Tischen den meinen suche. Brot und eine Kanne mit Wein. Meine Handbewegungen bekommen nun zwangsläufig etwas Geweihtes. Ich breche also das Brot, denn so ging es doch. Erhebe ich jetzt das Glas oder führe ich es einfach zum Mund? Die Mädchen schauen und tuscheln in der Ecke. Ich esse Knoblauchsuppe mit Brot und danach Stockfisch, wie man ihn in Navarra ißt, mit roter Paprika, aus dem Backofen. Als sie in die Küche gehen, werden kurz Stimmen laut, dann wieder Stille. Nach dem Essen gehe ich in den Salon. Schirmlampen, große Ledersessel. Ich bekomme Kaffee und eine grüne Chartreuse und setze mich wie mein eigener Großvater in eine Ecke und lese. Die Lichter in der Bar verlöschen, die Mädchen gehen nach Hause. Der Wind rüttelt an den Fensterläden, und das tut er auch noch, als ich ein paar Stunden später ins Bett gehe. Menschliche Wesen habe ich nicht mehr gesehen, eines nach dem anderen habe ich, der Schloßherr, alle Lichter auf meinem langen Weg nach oben gelöscht.
    Tympanon der Kirche Santa María la Real in Sangüesa
    Irgendwann, es mag zwanzig Jahre her sein, war ich in Sangüesa. Ich habe sogar einen Text darüber geschrieben, den ich absolut nicht mehr finden kann. Erinnerung hat dieses Dorf auf das einzige reduziert, was ich jetzt wiedersehen will: ein romanisches Kirchenportal an der im elften Jahrhundert erbauten Kirche Santa María la Real. Die kleine Kirche liegt etwas verloren im Dorf, man muß sich halb auf die Fahrbahn stellen, um das Tympanon richtig sehen zu können, aber es stellt sich dieselbe Ekstase wieder ein. Sangüesa war eine Station an der großen Pilgerstraße nach

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