Der Umweg nach Santiago
Vorstellung davon zu vermitteln, was sich in der verschlossenen Welt befindet, sind auf Pulten hinter Glas Karten, Bücher und Briefe ausgelegt. Ein blauer Vogel mit zerfransten Flügeln fliegt mit einem gespaltenen Banner im Schnabel über den Río Tinto. 1730: Plano del puerto de Acapulco , samt Siedlung und Heer von San Diego. Die Tiefen sind ebenfalls eingetragen, nun weiß ich, wie tief der Hafen von Acapulco im Jahr 1730 war. Oder ist, denn auf dieser Karte ist es noch immer 1730, ebenso wie es ein Pult weiter 1778 ist, wo »Ausdehnung, Lage und Proportionen« der Alcaldía Mayor de San Salvador angegeben werden. Nicaragua: Karte vom Flußlauf Matince, mit seinen Küsten und Landen zwischen Moin und Pacuari gelegen. Briefe von Magalhães, Vespucci, Kolumbus, das Wappen von La Paz, der Lauf des Orinoco, eine schwindelnde Fülle heraldischer Abbildungen, Karten in Kinderfarben, Truppenbewegungen und Verordnungen, von allem was folgte, nachdem Pizarro aus Trujillo und Cortés aus Medellín die Herrscher der Inka und der Azteken samt ihren jahrhundertealten Reichen vernichtet hatten und ein neues Reich begründeten, das vierhundert Jahre später in alle möglichen Länder zerfallen sein würde, aber noch immer an der Krankheit seiner Eroberer leiden würde. Als ich nach Stunden ins Freie trete, ist mein Gehirn versengt wie das Schild eines Raumschiffs, das nach Jahren zur Erde zurückkehrt.
1983
W INTERTAGE IN N AVARRA
Nach der reichen Dame mittleren Alters, die Biarritz ist, liegt San Sebastián am Golf von Biscaya wie eine ältliche, etwas skurril geschminkte adlige Jungfer auf dem Sofa. Sie hat bessere Zeiten gesehen, Getuschel in Logen, königliche Verehrer – das alles ist vorbei, doch die Spuren früheren Glanzes sind noch nicht verschwunden, und für den, der so etwas mag, besitzt sie durchaus noch Reiz. Der Vorteil verarmter Reicher besteht darin, daß sie ihr Hab und Gut besser hüten. Sie haben kein Geld, um neue Sachen zu kaufen, also tun die Lampen, der Schrank und die Stiche von früher nach wie vor Dienst. San Sebastián ist ein großer Art nouveau- und Jugendstilladen, komische Brücken mit Lampen, die man nirgends mehr findet, Hotels, die man in Brüssel längst abgerissen hätte, Gitter, an denen ein Sammler sich gern aufhängen lassen würde.
Mir ist das gerade recht. Ich bin den Angeln und Netzen der Welt entwischt und mache zusammen mit meinem lächerlichen alten lila Auto eine nostalgische Winterreise, wohin genau, weiß ich noch nicht, und habe mich im Hotel María Christina am Paseo de la República Argentina einquartiert. Ein Kind in Uniform hat mich durch einen gepflegten Garten in eine Halle geführt, in der man drei Königshäuser ermorden könnte. Ich liebe Verschlissenes, aber auch bei Verschleiß muß man sich auskennen. Schließlich geht es darum, was zerschlissen ist. Eine endlose Zahl bottines und molières von Zuhältern, Dichtern, Mätressen und Bankiers hat dem persischen Fußballfeld unter den Kronleuchtern die Patina des endgültig Vergangenen verliehen, was durch diskrete Flickstellen aus der ersten, dritten und fünften Dekade noch betont wird. Das Kupfer des Treppengeländers dagegen erstrahlt in vitalem kontrapunktischem Glanz, denn Personal gibt es noch, und Kupferputzmittel sind billiger als ein neuer Perser. Das Oberhemd des Pförtners ist strahlend weiß, aber weil er sich, wie jetzt auch, meist nicht sehr gut rasiert, ist es am Kragen leicht ausgefranst. Ebenso liegt etwas Staub auf dem Ficus. Mein Betthat Bögen aus Kupfer, und die Lüste, die es ertragen hat, bewirken, daß ich in die weiche Kaninchenhöhle in der Mitte rolle. Hier hängen Spiegel, in die ich, flachgelegt und übereinandergestapelt, zwanzig Mal passe. Die verstreichende Zeit hat eine fahle Sandfarbe in den roten Samt der Vorhänge gewoben. Meine Kleider hängen einsam und verwaist im großen Ballsaal des Kleiderschranks. Hier haben früher, ich bin mir ganz sicher, Riesen gewohnt, und heute nacht kommen sie wieder und stecken mich in ihre riesengroßen Hosentaschen oder werfen mich aus dem Fenster, über das Standbild des in die Ferne spähenden Seefahrers, dessen Namen ich nicht lesen kann, hinweg in den Río Urumea. Ein paar kleine Wellen, und dann nichts mehr.
Die Gassen der Altstadt sind mit großen Steinen gepflastert. Sie sind schmal und dunkel. Eine singende, flanierende Samstagabendmenge bevölkert die Kneipen, der Wein strömt in die Gläser, überall an den Wänden baskische
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