Der Umweg nach Santiago
Spuren!) gestand ich meine Niederlage ein. Für diese Feigheit habe ich mich an mir selbst gerächt, indem ich bei gut vierzig Grad den Berg Canigou hinaufkletterte und mehr von derlei Askeseübungen, aber es wurmt mich noch immer, und eines Tages werde ich es sehen, das plumpe Gehöft von dem Foto: schwärzlich, eingestürzt, und plötzlich, aus der Stallmauer aufragend, die halbrunde, elegante Form dessen, was vielleicht die Apsis war, einst,Anno 1006?, von der frommen Ermentrude, Burggräfin von Cardona, erbaut.
Wenn man mit einem vierzig Jahre alten Buch reist, sind Mißverständnisse nicht auszuschließen. Wo Muir auf Ruinen stößt, finde ich Gebäude und umgekehrt. So passierte es mir, daß ich – in einem anderen Jahr, einer anderen Jahreszeit – immerhin versuchte, einen Bogen um eine seiner Kirchen zu machen. Ich war unterwegs von Jaca nach Olorón. Es war das Ende einer Reise, ich hatte genug. Andererseits war da dieses nichtssagende graue Foto einer baufälligen Kirche vor einer kahlen Bergwand und die Detailaufnahme eines zugemauerten Portals mit einem »billet-moulding« -Bogen (Archivolten, Bogenläufe) und einigen davor gestapelten Gattern, verführerisch durch die fast groteske Reizlosigkeit. Der Text hatte es ebenfalls in sich. »The romantic little church of Nuestra Señora de Iguacél in a remote Pyrenean Valley to the northeast of Jaca, was entirely unknown to archeologists until ils publication in 1928 by Professor Kingsley Porter. One could not wish for a more fundamental monument for the Romanesque chronology of Aragón, for an inscription over the west portal, cut into the very stone of the building, states that the church was built by the Court of Don Sancho and his wife Doña Urrarca, and finished in 1072.« Aber dann kommt es, wieder in einer jener tückischen Fußnoten: »The church of Iguacél is three-quarters of an hour on foot beyond the village of Acín, which is about three hours from Castillo de Jaca, the nearest point on a motorroad. The church stands completely alone, and in 1928 the priest of Acín had the key. «
Aber als ich endlich in Acín angekommen war, wo ich den Dorfpfarrer von 1928 um den Schlüssel für Iguacél fragen sollte, hatte ich zum erstenmal das Gefühl, daß die Neutronenbombe eingeschlagen habe. Die Welt war untergegangen, oder besser gesagt, die Menschen waren verschwunden. Leere Häuser, durch die der Bergwind blies, eine eingestürzte Kirche, umgefallene Grabsteine. Auf russisch: ein Dorf ohne Seelen. Wie weiter? Zurückzugehen käme einer Niederlage gleich, aber ohne Schlüssel würde ich die Kirche, sollte ich sie finden, nicht besichtigen können. Na gut, von außen. Es regnete, und ich befand mich, soviel war zu erkennen, in einem Tal von großer Schönheit. Das letzte Rot in den Bäumen, ein strudelnder Bergbach, der Weg, der auf meine Füße wartete, ein tausendjähriger Weg. An der Form dieser Berge konnte sich nichts geändert haben, ich würde in einem Labor bewahrter Zeit gehen und niemandem, das war sicher, begegnen, abgesehen von den einander folgenden Geistern der Professoren Porter und Muir und natürlich Graf Sancho, Baumeistern, Steinmetzen und Mönchen. Ich kenne keine verlassenere Landschaft, Bruder Rabe, Schwester Windbö, der lotrechte Regen und am Ende, wo alles aufhörte, die Kirche von der Farbe des steinigen Bodens. Die Urbedeutung von Kirchen ist natürlich, daß sie durch ihre Mauern die drinnen bewahrte Luft von der Außenluft, der nicht geweihten Luft der Welt, trennen. Drinnenentsteht vom Augenblick der Weihe an dieses Geheimnisvolle, der Ort, wo nichts Profanes ist, sondern wo Gott sich aufhält und wo seine Schöpfung dargestellt wird.
San Juan de la Peña. Detail eines Kapitells: der Traum Josefs
Die Kirche als Darstellung einer höheren Wirklichkeit ist keine umwerfende Konzeption, und daß aus einer solchen ersten Konzeption eine symbolische Welt entsteht, weiß man, wenn man je in einem griechischen, buddhistischen oder shintoistischen Tempel gestanden hat, überall stößt man auf diese unglaubliche Reihe offener und verborgener Bedeutungen, in der jede Darstellung und jeder Gegenstand seinen Platz im esoterischen System erhält. Das Reizvolle an der romanischen Kunst besteht darin, daß sie die erste umfassende Ausdrucksform eines derartigen Systems in der eigenen Welt ist. Eine romanische Kirche ist eine Stein gewordene, Bild gewordene Kosmogonie. Alles ist Deutung, Moral, Metaphysik, und es ist nicht der
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