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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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ihrem Namen irgendwie verbundene Vorstellung, es seien Barbaren, fallenzulassen. 475 brechen sie den alten foedus , der sie mit dem Römischen Reich verband, und bilden einen unabhängigen Staat, der dreihundert Jahre später wie Zunder niederbrennt. Wie kam es dazu? Zwist innerhalb des Königshauses, zunehmende Ohnmacht des Staates, Auslaugung durch die von den Großen des Reiches erhobenen Abgaben, ein Antisemitismus, der sich auf die Wirtschaft des Landes auswirkt. Dieser eine Sprung, den ich hier gemacht habe, umfaßt schon dreihundert Jahre. Welch Paradox, daß man vergangene Zeit so verdichten muß, weil man sonst keine Zeit hat!
    Es ist Mode geworden, das, was jetzt geschieht, als Ironie zu bezeichnen. Ich wollte das eigentlich nicht, werde aber erst erzählen, was geschieht. Es klopft an der Tür, jemand bringt eine Zeitung. Zur Erinnerung: Ich sitze in einem Zimmer (umgeben von zu vielen Geschichtsbüchern, der Idiot aus dem Theaterstück mit seinem immer größer werdenden Puzzle) in einer verlassenen Landschaft im frühen Königreich Asturien, Ausgangspunkt der Rückeroberung Spaniens von den aus Marokko gekommenen Arabern. Wir waren beim Jahr 722, bei einem – wie auch immer – spanischen König stehengeblieben, der der Geschichte nach = Mythos = Legende den Anstoß zu dieser Gegenbewegung gab. 1986 – 722 = 1264. Auf der Titelseite der Zeitung ein Foto des spanischen und des marokkanischen Kronprinzen. Philipp von Bourbon und Griechenland empfängt Sidi Mohammed. Leg dieses Foto auf dein Geschichtsbuch, und es entsteht ein Spiegeleffekt, den man natürlich als Ironie der Geschichte bezeichnen kann, aber auch als Teil des Puzzles, mit dem man sich herumplagen muß. Auf irgendeine Weise »gehört« dieses Foto zur Schlacht am Gualete, 711, in der die »Spanier« von den »Marokkanern« geschlagen wurden, und zu jenem ersten Gegenschlag, elf Jahre später, bei Covadonga.
    Was bringt mich auf derlei Gedanken? Fast alles, angefangen beiden baskischen Wörtern auf den Schildern entlang der Straße hierher ( itxita , geschlossen, irterra , Ausfahrt, hartu ticketa , ziehen Sie Ihre Karte) bis hin zu der mozarabischen Kirche, nach der ich im Deva-Tal gesucht habe, und den Blättern aus dem Beatus von Liébana, die ich im Kloster Santo Toribio sah. Noch immer beherrschen die Basken, wenn auch auf negative Weise, die spanische Geschichte. Auf einer Karte, die die Situation im siebten Jahrhundert zeigt, ist das Baskenland mit grauen Pünktchen markiert: Die Westgoten machten einen Bogen darum, die Vascones wurden nie von ihnen unterworfen, und Felipe González hat heute noch seine Probleme mit ihnen. Franco konnte die baskische Sprache noch verbieten, doch die heutigen Basken lassen sich nicht abspeisen mit einer schemenhaften Form von Autonomie und ein paar symbolischen Worten entlang der autopista , sie nicht. Viel lieber vernichten sie den spanischen Staat, und zwar mit allen Mitteln, inklusive Mord. Der Stimmenanteil für die politische Partei, die der verlängerte Arm der ETA ist, Henrí Bakasuna, zeigt, daß fünfzehn Prozent der Basken noch immer zur Gewaltanwendung bereit sind. Da ist es auch kein Paradox mehr, daß man Mandate bei Wahlen erringt, die es dank der Demokratie gibt, und daß man dann auf ebendiese Demokratie pfeift, indem man seinen Sitz im Parlament nicht einnimmt.
    Der Weg hierher. Ich bin über Santander gefahren, an der Costa Montañesa entlang, rechts das Meer, links die Berge. Dann bei Unquera auf die N 621 abgebogen, eine gelbe Straße, die entlang dem Río Deva in die Berge führt. Rechts liegt die Sierra de Cuera, und bei Panes beginnt eine Paßstraße von fünfundzwanzig Kilometern Länge. An seinem Ende liegt Lebeña, und meine Kirche. Es ist ein Durchzugsgebiet, so eines, wie die Geschichte es für Durchmärsche, Hinterhalte, wechselseitige Befruchtung, Vermischung nutzt. Ich fahre entgegen dem Flußlauf des Río Deva, den Windungen folgend, mal zwischen gefräßigem Gestein, dann wieder mit unvermittelten Ausblicken auf arkadische Täler, Bauernhöfe mit Schieferdächern, Bergland. Es herrscht kaum Verkehr, im Autoradio das Gluckern und Blubbern der Wahlen, neue Geschichte, die irgendwann einmal ebenso ungerechterweise zur ungenießbaren Suppe einer einzigen Seite eingekocht werden wird, all diese Millionen von Worten, Fakten und Gesten, Bildern und Versprechungen, die alle so lange da waren, wie die Realität braucht, um etwas zu bewirken, um dann, in jenem Später, das nicht

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