Der Umweg nach Santiago
abgelegene, vergessene Bauwerke, die es bereits tausend Jahre auf dieser Welt ausgehalten hatten. Das Buch kostete umgerechnet rund siebzig Mark und sah auch von innen abweisend aus, glanzlose, teilweise schlichtweg graue, schlechte Fotos von baufälligen Gebäuden, geschlossenen Kirchen, Trümmern, und daneben eine Vielzahl von – für Laien angsteinflößenden – Grundrissen der fraglichen Kirchen, die man offenbar gründlich studieren sollte. Manchmal sieht man, während man selbst unverbindlich auf die Schönheit eines romanischen Tympanons starrt, so ein Ehepaar in eisengewobener Wanderkleidung auftauchen, den Führer fest in der geschrubbten Hand, sich gegenseitig murmelnd vorlesen, Detail für Detail unter die Lupe nehmend, genau wie diese Leute, die im Konzertsaal mit der Partitur neben einem sitzen. Zu denen wollte ich mich doch nichtzählen? Gut, dann war es eben das Sternstunden -Element: Ich sollte von diesem Augenblick an dazugehören, dieses Buch sollte eine Flut anderer Bücher gebären, ich sollte mich arm kaufen an den teuren, glänzend edierten benediktinischen Büchern über romanische Kunst der Editions Zodiaque, in Verzweiflung geraten, weil ich die Entsprechungen der verwendeten Terminologie in meiner Sprache nicht kannte und häufig auch nicht finden konnte, weil mir meine simple Schaulust verdorben wurde, weil ich mir eine völlig andere Vorstellung von der mittelalterlichen Idee von Schönheit aneignen mußte und weil ich mit all diesen Kilos an bedrucktem Papier im Gepäck idiotische Umwege durch entlegene spanische Landstriche auf den Spuren von Walter Muir Whitehill machen sollte.
Kein Vergnügen also? Oh doch, und obendrein noch eine seltsame Art von Erregung. So ähnlich wie bei einem Detektiv. Ich folgte jemandem, der nicht wußte, daß ich ihm folgte und der selber Dingen auf der Spur war, von deren Vorhandensein er wußte, die er aber nie gesehen hatte. Manchmal waren seine »Kirchen« inzwischen zu Bauernhöfen umgebaut, wurden als Stall benützt oder waren einfach zu einem hoffnungslosen Trümmerhaufen eingestürzt, und dann zog er murrend und klagend ab. Mir ging es besser. Zum einen hatte ich ihn , wenn auch nicht sein technisches Wissen und seine Augen. Ein Techniker bin ich nicht geworden, auch wenn ich jetzt weiß, was ein Zwickel, eine Strebe und ein Gurtbogen ist. Man lernt, und das wird wohl mit meiner Wortsucht zusammenhängen, denn ich kann es nicht ausstehen, wenn etwas einen Namen hat und dann auch noch in meiner eigenen Sprache, und ich kenne ihn nicht. Andererseits kommt man auf diese Weise dahinter, daß alles einen Namen hat. Jeder Bogen, jeder Winkel, jeder Sims, jede Mauer, jede Konstruktion hat einen Namen. Das ist eine entmutigende Erfahrung, und ich weiß nicht, ob sich ein anderer da hineinversetzen kann: Man steht in einer totenstillen Kirche, unter großen Mühen hat man dem Kneipenwirt nebenan den Schlüssel entrungen, und dann geht man in der uneigentlichen Wortlosigkeiteines solchen Bauwerks neben einem Mann her, der am liebsten zu seinem Kartenspiel zurück will, während man selber beharrlich mit Muirs Grundriß zugange ist und weiß, daß der Schlüsselmann einen für verrückt oder unausstehlich gelehrt oder beides hält. Am schönsten ist es, wenn man den Mann davon überzeugen kann, daß man mit seiner Kirche nicht durchbrennt, und er einen allein läßt. Aber dann geht es erst richtig los. Dieses stille und meist auch kühle Gebäude beginnt, einem Bedeutungen zu reichen. Das ist die symbolische Seite, die einem Menschen des Mittelalters sonnenklar war. Doch diese andere, vielleicht alberne Obsession meinerseits, die mit Wörtern und Benennungen zu tun hat, wird ebenfalls angesprochen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Gefühl richtig vermitteln kann. Wenn man einmal weiß, daß alles irgendwie heißt oder, einfacher ausgedrückt, einen Namen hat, will man auch wissen, wie dieser lautet. Man kann sich plötzlich nicht mehr mit nebulösen Umschreibungen zufriedengeben wie »die Oberseite der Säule« oder »diese Fläche da in der Ecke, genau wie die drei anderen, auf denen die Kuppel ruht«. Doch das ist zugleich auch das Elend. Seit es mit uns bergab gegangen ist und Niederländisch keine Weltsprache mehr ist, ist der Weg des neugierigen niederländischen Reisenden ein dorniger. Das vorbildliche Glossaire bei Zodiaque, in dem anhand von Fotos und Zeichnungen von der Schwelle bis zur Turmspitze alles benannt und beschrieben wird, führt
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