Der Umweg nach Santiago
entfallen, aber das Bild dieses versteinerten, in sich geschlossenen Gedankengangs, selbst fast ein claustrum , an jedem Ort anders und doch auf rätselhafte Weise gleich, wird mir nicht mehr abhanden kommen.
1982
V IELLEICHT WEISS ES DIE T AUBE
Die Wand mir gegenüber ist so weiß wie Papier oder so weiß wie Schnee. Es ist eine spanische Wand, ich befinde mich in den Picos de Europa. Wir haben Mai, und es schneit. Der Parador, in dem ich abgestiegen bin, liegt unterhalb einer Bergwand, doch das ist zu freundlich ausgedrückt. Drachenzähne, Gottesgebiß, Gestein mit Zacken, Kerben, Wunden. Es sind die Täler und Pässe der Könige von Asturien, die einst die Geschichte Europas veränderten und damit die der Welt. Das klingt geheimnisvoll und hört sich nach Übertreibung an, doch derjenige, der dies niederschreibt, befindet sich im Einklang mit seiner Umgebung. Die Natur zieht hier alle Register. Das Meer liegt dreißig Kilometer weiter nördlich, die Bergwand, unter der sich diese Herberge versteckt, reicht an die Dreitausendmetergrenze, die granitene Kulisse einer Bühne ohne Vorstellung, ein Halbrund grauen, zerklüfteten Gesteins, vor dem alles Unsinn wird. Der Weg hört hier auf, hinter den uneinnehmbaren Mauern leben Adler, Bären, Auerhähne. Fuente Dé heißt der Parador, in den Bergen oben entspringt der Río Deva, der sich bis zum Meer durchkämpfen muß und so die Schluchten ausgewaschen hat, durch die ich gestern gefahren bin.
Es ist natürlich nicht die Zeit, die in dieser Gegend stillgestanden hat, auch wenn man es gern glauben möchte, es sind die Berge. Was sich bewegt hat, ist die Geschichte, und was hier geatmet hat, sind die Jahreszeiten. Heiße Sommer, verbissene Winter, und dazwischen das menschliche Treiben. Nie verändert: Jäger, Hirten, Bauern, Nachfahren der Kantabrer und der Goten. Nie unterworfen von Mauren, Sarazenen, Muslimen, wie immer man sie nennen mag. Von hier aus begann die Rückeroberung Spaniens, die Reconquista. Eroberung wäre das richtigere Wort, aber in diesem »Zurück« drückt sich der mit sieben Jahrhunderten unendlich lange Weg bis zum Sieg des Katholischen Königspaars bei Granada aus, der mit jenem ersten König von Asturien, Pelayo, und seinem Sieg über eine islamische Strafexpedition bei Covadongabegann. Das Tal, in dem dies geschah, ist heute ein nationales Heiligtum. Covadonga ist ein Schlüsselwort in der spanischen Geschichte.
Je mehr man liest, um so mehr Material häuft sich an, bis man merkt, daß man in einem Zimmer sitzt mit einem Puzzle, größer als das Zimmer selbst, und daß es um einen her Dutzende anderer Zimmer gibt, in denen in Schränken, Kartons und Körben noch mehr Material verwahrt wird. Und plötzlich kommt man sich wie der einsame Verrückte aus einem absurden Theaterstück vor, vor sich hin murmelnd, Papiere hin und her schiebend, auf der Suche nach dem, was noch fehlt, und dabei doch schon ertrinkend in dem, was alles vor einem liegt. Das bin ich. Mein Antipode ist der Historiker, gar nicht einmal der Geschichtsphilosoph, nein, der Fachmann, die Biene in Menschengestalt, die ihr Leben in Archiven und Klosterbibliotheken verbringt und nur alle paar Jahre mit einem bislang fehlenden Puzzleteil ans Tageslicht tritt, was das Puzzle lediglich noch größer macht.
Je detaillierter die Geschichte, um so größer die Fülle der zusammengetragenen Fakten und Motive, eine Mischung aus Chaos und Logik, Irrationalität, Stumpfsinn, Rätselhaftigkeit. Wenn es ein Auge gäbe, das sich aus der Zeit herausnehmen und wie ein magischer, allsehender Computer alle Fäden des Knäuels entwirren kann, so müßte sich herausstellen, daß alles von Anfang an logisch verlaufen ist, einschließlich der Irrationalität. Logisch? Ja, aber nur deshalb, weil es sich so und nicht anders abgespielt hat, eine spätere Logik, die das Wahnsinnsknäuel nachträglich zum System erklärt. Von diesem Auge hat fast jeder geträumt, Hegel, Humboldt, jeder wünscht sich die letzte Klarheit, wie auch immer sie im folgenden genannt werden mag, selbst Absicht ist zulässig. Niemand will den üblen Sumpf der Fakten und Ungereimtheiten als seinen natürlichen Aufenthaltsort akzeptieren, denn wer wäre man dann selbst?
Westgoten sind nach Spanien vorgedrungen, sie regieren das Land von Toledo aus. Ein Blick auf ihre Gesetze, ihre Regierungsform,ihre Wahlkönige, Schriftzeichen, Kirchen, von denen einige noch völlig intakt in der spanischen Landschaft stehen, genügt, um die mit
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