Der Umweg nach Santiago
gekreuzigte Christus, der, wie in der Gotik, im Mittelpunkt steht, sondern Christus der Weltenherrscher, Herr des Universums, Chronokrator, Schöpfer jenes seltsamen Elements, in dem die Schöpfung auf bewahrt wird, der Zeit. Nach dieser Auffassung hatte alles eine bestimmte Bedeutung, von der Mauer bis zur Schwelle, vom Gewölbe bis zum Tauf becken. Jagd, Jahreszeiten, Sternbilder, Symbole von Schuld und Strafe, Auferstehung und Ewigkeit, Bär und Schlange, erhobener Schweif und Kiefernzapfen, Zickzacklinie und gekreuzter Gürtel, alles wollte etwas ausdrücken und war auch für denjenigen lesbar, der des Lesens nicht mächtig war, eine Sprache aus Zahlen und Zeichen, die einen in einem Universum festhielt, in dem man, wenn alles seine Ordnung hatte, zu Hause war oder in das man zumindest gehörte, und von dem die zeitliche Erde und das eigene zeitliche Leben nur einen Teil ausmachten.
Es gibt eine andere Vorstellung, mit der ich mich viel schwerer tue, eine, die ich nicht mehr teilen und auch nicht mitteilen kann, nämlich daß alles, was ich an diesen Kirchen als schön , oder sagen wir: als Kunst empfinde, in jener Zeit ganz und gar nicht so betrachtet wurde. Der Mann, der diese Darstellungen, die heutenoch meine im zwanzigsten Jahrhundert wurzelnde Seele bis in den letzten Winkel berühren, aus dem Stein herausmeißelte, war für den Menschen des Mittelalters nicht mehr als ein Maurer oder Zimmermann. »Kunst«, sagt Rosario Assunto ( Die Theorie des Schönen im Mittelalter , Köln 1963), »ist keine von den anderen unterschiedene Tätigkeit, sondern der Aspekt des Handelns, der die anschaubare Schönheit seiner Erzeugnisse zum Ziel hat«, ein Gedankengang, der mir nicht ganz einleuchten will. Es ist schlimmer als »East is East et cetera«, es gelingt mir einfach nicht, mich von meiner eigenen Art des Schauens zu lösen, ich müßte ein anderer werden, ein tausend Jahre alter Mann, freilich einer, der die Ideengeschichte dieser tausend Jahre überschlagen hat. Wenn ich je nahe daran war, dann vielleicht in diesem verlassenen Pyrenäental. Nichts und niemand war zu sehen, ich stand da mit meinem brennenden Eifer, aber ohne Schlüssel vor dieser verschlossenen Tür. Ein anderer Frustrierter hatte es verstanden, mit einem scharfen Gegenstand ein kleines Loch hineinzubohren, aber alles, was ich dadurch sah, war ein kleines Stück Mauer aus groben Steinen. Nun geschah etwas Eigenartiges. Ich war schließlich nicht mit leeren Händen gekommen. »Ich wollt’, es käm’ ein Mann, der zaubern kann«, murmelte ich mit Ed. Hoornik, und im Schutze des Bogens (Symbol des Himmels) über der Tür las ich Wort für Wort bei Muir nach, was ich zwei Meter weiter nicht sehen konnte, und in diesem anderen kiloschweren Druckerzeugnis, Aragón Roman (Ed. Zodiaque, 1971), sah ich auf Fotos das kahle steinerne Tonnengewölbe, die wunderbaren Schmiedearbeiten und die ernsten, betrübten Gesichter von Mutter und Kind mit den steifen hochgezogenen Knien, starr und hieratisch wie ein Götzenbild aus einer ertrunkenen Welt. Der Himmel verdüsterte sich, eine Sturmbö fegte durch die wenigen Bäume. Vielleicht wurde Professor Muir ungeduldig im Totenreich. Ich drehte mich um, um ihm zu folgen, meinem unsichtbaren Führer, genauso wie ich ihm zum Kastell von Loarre gefolgt war, wo ganz Aragonien wie eine staubige Stierhaut einem zu Füßen liegt, und zu dem weißen schleichenden Nebelauf dem großen Platz vor der Kathedrale von Santiago. All diese Wege! Über das stumpfe Leichenhemd der kastilischen Ebene zu der in ihrem vergessenen Dorf inzwischen viel zu großen, fast rheinländischen Kirche San Martín de Fromista mit ihren dreihundertfünfzig in Stein geschnittenen Streben. Von der niedrigen, feuchtkalten, vorweltlichen Krypta von Saint Michel de Cuxa mit ihrer einen versteinerten Palmensäule zu den geheimnisvollen asturischen Königsgräbern im Pantheon von León, von der windumtosten Galerie von San Esteban de Gormaz in einer Landschaft mit Schweinen und Schlamm zu dem unter Felsen hängenden Vogelnest San Juan de la Peña. Ich war ihm dankbar. Er hatte mir eine Welt erschlossen, und ich hatte leere, fremde Teile Spaniens besser kennengelernt. Ich hatte Honig und Brot, Käse und Wein von Mönchen bekommen, die die letzten tausend Jahre unverändert mit denselben Regeln vollendet hatten und in dieser Verlassenheit noch immer weltabgeschieden lebten. Die Kenntnisse von der Architektur des elften Jahrhunderts würden mir wieder
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