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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Reich unabhängig geworden waren. Durch das Meer und den mühelosen Zugang zum Languedoc orientierten sich die Katalanen zum Rhônetal und der Lombardei hin, und damit an einem Stil aus einer früheren romanischen Periode mit geringerer Ornamentik. Die starke Internationalisierung der westlichen Gebiete durch die Pilgerroute nach Santiago de Compostela ging an Katalonien vorbei und somit auch die Orientierung auf den »entwickelteren« Baustil im Westen Frankreichs.
    Die Ironie der Geschichte wollte es, daß Walter Muir Whitehillseine Nachforschungen in einer ebenso verwickelten Periode der spanischen Geschichte anstellen mußte. Er läßt darüber, wahrscheinlich wohlweislich, nicht viel verlauten, sei es, um Freunde zu schützen, sei es, um sich die Möglichkeit zur Rückkehr nach Franco-Spanien offenzuhalten, aber die Daten sprechen für sich.
    Insgesamt verbrachte Muir Whitehill neun Jahre in Spanien, einen Teil davon im wunderbaren Benediktinerkloster Santo Domingo de Silos, das damals nur zu Fuß von Burgos aus zu erreichen war. Die Mönche des Mittelalters wollten offenbar den Tibetern nacheifern, ihre Klöster kleben an Felswänden, schweben über Abgründen, und bis zum heutigen Tag gibt es welche, wie beispielsweise Saint Martin du Canigou, die man eigentlich nur zu Fuß und kletternd erreichen kann. Muir selbst reiste mit zwei Bibeln: Der Historia de la Arquitectura Cristiana Española von Vicente Lampérez (1908) und L’Arquitectura Románica a Catalunya (»now – 1941 – out of print and obtainable only at a fantastic premium«) von Puig i Cadafalch. Er bewunderte beide, enthüllt aber stöbernd, messend und wertend auch ihre Mängel und kommt zu dem Schluß – wie könnte es anders sein –, daß er jetzt das maßgebliche Buch schreibt. »Eine sonderbare Obsession« sagte ich bereits, und so ist es auch. Während die ganze Welt zusammenbricht, sitzt er in Amerika, aber »proofs continued so methodically to cross the Atlantic that in 1941 I received bound copies, containing slips stating in twelve languages: ›Arrived safely – thanks to British convoys‹« , und er erwähnt voller Stolz, daß »in spite of war frontiers and occupation the book was reviewed in France«.
    Das Eigenartige ist, daß ich bei all diesen Reisen, auf denen ich ihm folgte – nicht methodisch und sicherlich nicht so gründlich, denn dann hätte ich auch neun Jahre dafür gebraucht –, keine Vorstellung von ihm hatte. Ein Foto von ihm habe ich nie gesehen. Übrigens ist es auch nicht undenkbar, daß er noch lebt. Manchmal habe ich beim Hinaufsteigen oder beim längeren Warten auf einen Schlüssel, der schließlich doch nicht kam, versucht, ihn mir vorzustellen. Groß und knochig, im Manchesteranzug?Oder klein, dick und flink, mit roten Haaren wie ein typischer Engländer? Auf jeden Fall messend, murmelnd und mit dem toten Lampérez streitend. Noch 1968, in der ersten unveränderten Neuauflage, schreibt er stolz, daß in den dreißig Jahren seit der Erstauflage seines Buchs nichts Wesentliches hinzugekommen sei. Manchmal habe ich übrigens den Verdacht, daß er lieber niemanden auf seinen Spuren wissen wollte. Eine Landkarte, das wäre doch das mindeste gewesen! Aber nein. Er liefert ein paar vage Beschreibungen in seinen Fußnoten, aber die helfen einem längst nicht immer weiter, nicht einmal, wenn man zusätzlich eine Detailkarte von Michelin zu Rate zieht.
    Mein allererster Erkundungszug vor zwei Jahren scheiterte gleich zu Beginn. Ich wohnte in Vic, in Katalonien, und hatte Muir so verstanden, daß eine der Hunderte von Kirchen, die er beschrieben hatte, sich dort in der Nähe befinden mußte. »Ajuntament de Tavérnoles, comarca de La Plana de Vic« , gab er an. Die Kirche selbst hieß Sant Pere de Casséres. Tavérnoles konnte ich noch finden, aber Casséres stand nicht einmal auf der Detailkarte. Nach langem Fragen kam ich zumindest in die Nähe. Es regnete, und es war kein Vergnügen. Schlammwege führten in mehrere Richtungen, und einer von ihnen mußte es sein, aber, so sagte der Bauer, der mir den Weg zeigte: »Sie wollen sicher zur Kirche?« Ja, ich war einer dieser bedauernswerten Narren. »Mit dem Auto kommen Sie nicht hin«, sagte er, »das müssen Sie hierlassen. Die Kirche ist jetzt ein Gehöft, aber da wohnt niemand mehr, Sie können also nicht rein. No hay nada! Da ist nichts zu sehen!« Gelber glitschiger Lehm, schwarzer Herbstregen. Auf nassen Schuhen langsam zurückrutschend (das sind vielleicht

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