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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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zwar die Äquivalente in fünf Sprachen auf, aber nicht in meiner, und dann gibt es ein hilfloses Hin- und Herblättern in Haslinghuis’ Bouwkundige termen , Baufachausdrücke, oder in vervielfältigten Blättern mit architektonischen Begriffen, die ich in der Universität gefunden habe, doch die Benennungen decken sich längst nicht immer. Andererseits gefällt mir dieses Herumknobeln, wenngleich es nichts ist im Vergleich zu der respektheischenden Feinstarbeit, in die Muir sich jahrelang hineingekniet hat. Wie ein Conan Doyle zieht er, meist zu Fuß, von Kirche zu Kirche, forscht in Bullen, Grabinschriften, duelliert sich in Fußnoten mit alten spanischen Herren, die das gleiche bereits zwanzig Jahre vor ihmgetan haben, wegen Daten und Deutungen. In Fußnoten wird natürlich nicht geschimpft, und doch klingt oft eine sonderbare Obsession durch, und unter der diplomatischen Prosa verbergen sich Dolche des Zweifels. Wenn Muir schreibt: »Sr. Puig i Cadafalch and M. Gaillard, having related the capitals to other early Catalan sculptures, are inclined to believe that the building was begun in ...«, so kann man Gift darauf nehmen, daß er irgendwo einen Blutfleck gefunden hat, der beweist, daß der Mord auf gar keinen Fall vor zwei Uhr nachts verübt worden sein kann.
    Statuen an der Kirche Santa María la Real in Sangüesa
    Meine Bewunderung für die romanische Kunst kam natürlich nicht von ungefähr. Ich hatte mich schon früher, in Vézelay und Conques, in Maastricht und Sangüesa, in den Bann ziehen lassen von ... ja, wovon eigentlich? Der Schlichtheit? Der Geradlinigkeit? Den seltsamen Phantasien? Ich weiß es nicht. Nicht so recht jedenfalls. Vielleicht kam es daher, weil diese Kunst keine richtige Vorgängerin hatte. Natürlich stimmt auch das wieder nicht ganz, es gibt von römischen Basiliken beeinflußte Bauformen, die ersten Mönche hatten Tier- und Pflanzenmotive aus dem Mittleren und Fernen Osten mitgebracht, und die christliche Symbolik existierte schon seit Jahrhunderten, aber trotzdem ist dies die erste große europäische Kunst nach der Antike, und sie strahlt einen solch unverwechselbaren Charakter und ein eigenes Weltbild aus, sie ist so völlig verwoben mit dem, was gedacht und geglaubt wurde – was damals das gleiche war –, daß man sagen kann, hier ist ein Weltbild Stein geworden. Auf einem anderen Blatt steht, ob wir dieses Bild noch lesen können, doch darauf komme ich später noch.
    Mit was für einem Spanien haben wir es im elften Jahrhundert zu tun? Drei gräuliche, in dem Buch reproduzierte Karten machen auf jeden Fall deutlich: Der Kampf um Einfluß bewegte sich wie eine Walze über das Land. Die »Grenzen« flitzen hin und her wie in einem Zeichentrickfilm, und auf der ersten Karte, von 1050, erstrecken sich die taifas , die maurischen Teilreiche, bis weit in den Norden. Auf der dritten Karte gibt es plötzlich ein moslemisches Königreich Zaragoza, das christliche León hat Kastilien ansich gerissen, und der katalanische Block beiderseits der Pyrenäen bildet noch immer eine sprachliche und kulturelle Einheit, so unausweichlich, daß Muir auch jetzt noch die beiden großen Abteien, Saint Martín du Canigou und Saint Michel de Cuxa, Katalonien zurechnet. Ich bin viel in diesen Landstrichen umhergereist, aber durch Heiraten, Erbschaften, Bündnisse und Rivalitäten bleibt der nicht-moslemische Teil Spaniens im elften Jahrhundert ein unmöglicher Wirrwarr, der einen mit seinen vielen Dynastien und den hin und her tanzenden Reichsgrenzen schwindeln macht. Eines ist dennoch unübersehbar: Die Kompaßnadel der spanischen Geschichte bewegte sich langsam, aber unaufhaltsam vom römischen und arabischen Einfluß weg und richtete sich auf den »modernen« europäischen Norden aus. Hilfsinstrumente waren dabei die »Siedlungspolitik« des Ordens von Cluny, der Benediktiner, sowie die in immer größerer Zahl aus allen europäischen Ländern nach Santiago de Compostela ziehenden Pilger.
    Die beiden christlichen Gebiete in Spanien unterschieden sich stark voneinander, und dieser Unterschied kommt im Baustil des elften Jahrhunderts noch immer zum Ausdruck. Im Westen gab es die Königreiche León und Navarra, in denen die westgotischen Traditionen noch nicht ausgestorben waren. In den Bergen isoliert lag das Königreich Aragonien, und im Osten, durch moslemische Gebiete von den anderen »Ländern« getrennt, die katalanischen Grafschaften, die nach anfänglicher Zugehörigkeit zum Karolingischen

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