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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Antike und Mittelalter, und gleichzeitig als Chefgelehrter der modernen Semiotik als Echo unter die Echos mischt, die Beatus mit seinem »Kommentar« ausgelöst hat.
    Aber auch dieser Kommentar war nur ein Echo, nicht nur auf die Offenbarung des Johannes selbst, sondern auf alle Kommentare, die diese zweiundzwanzig Kapitel bis zur Zeit des Beatus ausgelöst hatten, von Tertullian und Augustinus bis hin zu Isidor von Lyon und Isidor von Sevilla. Und, so sagt Eco, was war die Offenbarung selbst? Ein Buch in der jüdischen Tradition, ein Echo des Propheten Hesekiel. Und kamen Hesekiels Texte denn aus dem Nichts oder waren es Echos syrischer Texte? Und so weiter, bis an die Grenzen des Geschriebenen. Was für eine phantastisch perverse Form: Eco, Agnostiker, Italiener aus dem Jahrhundert Gramscis, der Mann, der so vollendet über Film, Fernsehen und Comics schreibt, und gleichzeitig Eco der Kleriker, der Mann, der über Thomas von Aquin promoviert hat und damit alles, was dem vorangegangen ist, in sich aufgesogen hat, und der sich jetzt in die erlauchten Kreise patristischer Autoren und Kommentatoreneinreiht, nicht mehr, um wie sie zu erläutern, was das Buch bedeutete, sondern um darzulegen, was jene anderen glaubten, daß es bedeute, und warum.
    Eine Spiegelschrift ohne Ende. In der Stille des eigenen Zimmers hört man das Umblättern jener schweren Blätter in den tausend Bibliotheken und Skriptorien, die zusammen die Bibliothek und das Skriptorium der Welt bilden, man hört Federn über Blätter kratzen und sieht Texte andere Texte überwuchern, die Entstehung der unendlichen Handschrift, die nur Borges und Eco noch lesen können.
    Palimpsest, so betitelt Umberto Eco seinen Essay über Beatus. Er schreibt ihn nicht aus Bewunderung für dessen Stil oder Originalität, denn davon kann keine Rede sein. »Der Held unseres Buches war ein Epigone, der zu kultureller Konfusion neigte und eine Syntax verwendete, die sogar jemandem, der an die tollsten Korruptionen mittelalterlichen Lateins gewöhnt ist, einen Schrecken einjagen kann.« Beatus wiederholt »bis zum Gehtnichtmehr« seine eigenen Erläuterungen, verliert sich in »gewundenen Analysen«, dichtet Hieronymus Texte an, die von Priscillian stammen, läßt Dinge weg, tauscht Wörter aus, widerspricht sich selbst, verwendet dasselbe Zitat einmal mit dem Akkusativ und dann wieder mit dem Ablativ, kurz, bringt Horden posthumer Kopisten zum Schaudern und schreibt dennoch einen Bestseller, denn durch die Wirkung, die sein Kommentar hatte, wurde Beatus in den Jahrhunderten nach seinem Tod immer berühmter. In seiner obsessiven Sucht nach hermeneutischer Klarheit schrieb er im Grunde schon all die Illustrationen, die andere später zu seinem Werk schaffen sollten: Jedes siebente Horn, jedes vierte Auge, jeder Schrecken aus dem apokalyptischen Traum wurde mit fataler Präzision beschrieben, und diese Bildersprache wurde, zuerst gemalt und später in Stein, zum Bild ohne Sprache, und Bilder waren es, die ein Mensch des Mittelalters aufnahm. Die Texte wurden von Menschen, die nicht lesen konnten, auswendig gelernt. Stütze, Erläuterung, Untermauerung dabei war das Bild, und das Bild stammte vonBeatus. Nun simplifiziere ich natürlich, aber ich habe auch weniger Platz als Eco (und Beatus). Die exegetischen Darstellungen an Kapitellen und Tympana der romanischen Kirchen entlang der Pilgerstraße nach Santiago de Compostela stammen oft, wie in Moissac, wortwörtlich aus »Illustrationen« zum Kommentar des Beatus: Was als Wort das Kloster verließ, vor dem ich jetzt stehe, kehrte, Jahrhunderte später, als steinernes Bild wieder nach Spanien zurück.
    Beatus schrieb seinen Kommentar mit einem bestimmten Ziel: Er wollte eine Ketzerei bekämpfen. Wir befinden uns noch immer, oder wieder, im Spanien des achten Jahrhunderts, oder besser gesagt, in der geographischen Gegend, die heute Spanien heißt und die damals zum größten Teil von Arabern besetzt war. Der Norden war frei, und dort befand Beatus sich, Abt des Klosters Liébana (730-785), Kaplan der Königin Osinda, Gattin König Silos von Oviedo (Asturien). Sein Kontrahent war Elipandus, Erzbischof von Toledo, eine Art Bürgermeister zu Kriegszeiten, gefangen, wie das spanische Sprichwort sagt, zwischen »dem Schwert des Islam und der karolingischen Mauer«.
    Toledo ist die Hauptstadt des Kalifenreiches der Omaijaden, und diese alte urbs regia liegt auf halbem Wege zwischen Al-Andalus, dem die Christen unterstehen, einerseits und

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