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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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eingegraben haben, seit ich sie in Isfahan, Kairuan, Córdoba gesehen habe, wie ich mich in der Stille wiegen lasse, die zur Abwesenheit anderer Menschen gehört und die man fast nirgends mehr erlebt.
    Das Buch habe ich neben mich gelegt, doch ich habe noch einen Führer. Er weiß nicht soviel wie das Buch, aber es ist schon einLeben lang seine Kirche. Er geht mit seinem schlimmen Bein zum Altar und deutet auf die große Steinplatte, auf der der Altartisch ruht. »Los Godos«, sagt er.
    Die Goten, und in seinem Mund bekommen die beiden Wörter eine andere Bedeutung, als gäbe es die fremden nördlichen Stämme noch immer, als könnten sie noch einmal von Norden her, von wo ich komme, einfallen, ihr glücklich-unglückliches Königreich gründen, bis sie wieder von den Arabern geschlagen werden.
    Er deutet auf das Schmuckmotiv im Stein, ein großes Rad, umgeben von sechs kleineren. »Das haben sie hier ausgegraben«, sagt er. Die gleichen geometrischen Verzierungen habe ich draußen gesehen, in den langen Steinen, die das Dachgesims stützen, Konsolen, Kragsteine. Jetzt schaue ich auf den Stein am Altar. Das große Rad steht still, aber es sieht aus, als drehte es sich. Vom stillstehenden Mittelpunkt aus sechzehn gebogene Linien, eine fließende Swastika. Rad, ewige Bewegung, ewige Wiederkehr, die Welt ein Rad in einem Rad, sagte Nicolaus Cusanus. Was sahen die Menschen, die hier lebten, in diesem keltischen Echo? Swastika, schwingende Bewegung, fließend dieses Mal, rund und unbeweglich der Mittelpunkt, entgegen den noch nicht existierenden Zeigern der Uhr und der Welt wie bei den Karolingern oder mit quergestellten, auf Weltliches erpichten Haken hinter der Vorstellung der Zeit herjagend wie Hitler auf der Suche nach seinem dämonischen Millennium. Zeichen, Darstellungen, die ausdrückten, was sie dachten, was sie beschwören wollten. Aber was dachten sie, an ihrem beweglichen Schnittpunkt der Denksysteme zwischen Glaube und Aberglaube, Tradition, Ketzerei, Erneuerung? Der Stein hier sagt es und sagt es nicht, ich fahre mit den Händen über die sich reimenden Rillen, als wollte ich der stillstehenden Bewegung einen Schubs geben, und mein Führer lacht. »No se mueve« , sagt er, »es bewegt sich nicht«, aber ist es wirklich so? Sechzehn Arme gehen vom Mittelpunkt aus, Arme, Strahlen, Bahnen, Ranken, gebogene Linien, zierliche Speichen, wie nennt man so etwas? Und auchdiese Zahl ist natürlich kein Zufall, unmotivierte Verzierungen gab es nicht, alles drückte etwas aus. Sechzehn, das Vierfache von vier. Aber was will ich damit? Nichts, nur lauschen. Nicht das, was ich über diese Zahlen und Formen sage, ist wahr, sondern das, was sie bedeuten wollen. Rad, Kreis, Swastika, sechzehn, vier, im Chor beginnen sie auf mich einzuflüstern, esoterisches Summen, kabbalistischer Singsang, byzantinisches Gurgeln, Erbe über Erbe, mozarabisches Jubeln, koptisches Pfeifen, mesopotamisches Brummen, keltisches Murmeln, keines schließt die Anwesenheit des anderen aus in diesem sich selbst befruchtenden Jedermannsland. Jetzt bin ich nirgends mehr sicher, auch die Schwelle, die Säule, der Bogen, das Kreuz, die Akanthusblätter und die orientalischen Fabeltiere auf den Kapitellen, die geometrisch stilisierten Blüten an den hohen, schmalen Friesen kommen mit ihren vergessenen Bedeutungen angeflogen und wollen gelesen werden, wie sie einmal gelesen wurden, wiedererkannt werden, wie sie kodiert und gekannt wurden in einer Zeit, in der vier nicht ausschließlich viermal eine Einheit desselben war, sondern, und das bereits seit Anbeginn der Zeit, das Solide, das Greif bare, die Fülle, als Könige eine Vier in ihrem Namen trugen, »Herr der vier Himmelsrichtungen, der vier Meere«, aber damit habe ich mich schon zu weit von meinem Stein entfernt, hin zu sechzehn als der Verdoppelung von acht, zu Hod, dem achten Sefir der Kabbala, dem Glanz, der Glorie, zu der Bedeutung der vier Konsonanten in dem unaussprechlichen Namen Y a HW e H , Y der Mensch, H der Löwe, V der Stier, nochmals H , der Adler, und dann fliehe ich vor all diesen düsteren Deutungen über die Schwelle, die das Heilige vom Profanen trennte, und stehe wieder draußen, wo der Regen beruhigend auf Bäume rauscht, die hier nichts bedeuten, da sie von niemandem geschaffen wurden.
    Und doch bleibt es merkwürdig: Etwas bedeutet etwas und zugleich nichts. Nicht für mich, wohl aber für denjenigen, der die Kirche baute, die Figuren gravierte, den Grundriß entwarf. Was uns

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