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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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dem europäischen Norden wurden immer fester geknüpft, die Trennung, und damit die Sehnsucht nach Wiedervereinigung mit dem noch von den Arabern besetzten übrigen Spanien, wurde immer heftiger empfunden.
    Santiago kam zu seinem Glanz – mit den bekannten Folgen –, nachdem man in der Stadt das Grab des Apostels Jakobus gefunden zu haben glaubte , Ereignisse also, die sich aus etwas ergaben, was wahrscheinlich gar nicht stattgefunden hat. Auf dieseräußerst schemenhaften Vorstellung und auf der seit dem fast mystischen Pelayo so hartnäckig verteidigten Unabhängigkeit der asturischen Könige beruhte eine europäische Massenbewegung, die nachfolgende Generationen von Spaniern motivierte und in die Lage versetzte, sich der arabischen Fremdherrschaft auf Dauer zu widersetzen, den restlichen Teil Spaniens dem Islam wieder zu entreißen und so eine Flut aufzuhalten, die ganz Europa hätte überschwemmen können. So gesehen ist es sicherlich nicht übertrieben zu sagen, daß in den Tälern und auf den Pässen Asturiens einst die Geschichte Europas – und damit die der Welt – einen anderen Verlauf erhielt, auch wenn ich das Wort »anderer Verlauf« zurücknehmen muß, denn es gibt natürlich nur eine Geschichte, und das ist die Geschichte, wie sie sich eben zugetragen hat. Einen »anderen Verlauf« allenfalls im Hinblick auf eine imaginäre Geschichte, wie sie sich auch zugetragen haben könnte : ein nicht-christliches Europa, ein Europa, das von der Eroberungswelle mitgerissen worden wäre wie weite Teile der damals bekannten Welt.
    Der spanische Historiker Claudio Sánchez-Albornoz ( Dipticos de Historia de España ) findet dafür stärkere Worte: Dank des spanischen Volkes ist Europa nicht überrannt worden. Er zitiert Livius: »Spanien (Hispania) war aufgrund der Natur seines Landes und seiner Bewohner besser als Italien und besser als irgendein anderes Land der Erde geeignet, einen Krieg zu führen und durchzuhalten«, und knüpft daran einige phantastische Schlußfolgerungen: Infolge der Durchquerung des Niemandslands zwischen Duero und Ebro von Asturien und Navarra aus und der anschließenden Vertreibung der Moslems vom wiedereroberten Kastilien aus hat Spanien nicht nur Europa aus dem politischen Einflußbereich des Islams herausgehalten – und Europa und dessen späterer Renaissance gleichzeitig all das, was arabische Gelehrte, Schriftsteller, Philosophen, Ärzte, Übersetzer an Wertvollem aus dem griechischen und hellenistischen Erbe geschöpft hatten, erhalten –, sondern darüber hinaus aufgrund der Erfahrung jenes sieben Jahrhunderte währenden Kampfes die Mentalitätentwickelt, die erforderlich war, um die westliche Hemisphäre zu entdecken und zu erobern. Er drückt es mit einem Paradox aus, das er nicht Paradox, sondern Realität nennen will: »Si los musulmanes no hubiesen conquistado España en el siglo VIII , los españoles no habrían conquistado América en el XVI : Paradoja? No, realidad.« (Wenn die Muselmanen Spanien im achten Jahrhundert nicht erobert hätten, dann hätten die Spanier Amerika im sechzehnten Jahrhundert nicht erobert. Paradox? Nein, Realität.) Man kann das auch umkehren, und dann wird wirklich ein Paradox oder eine Phantasie daraus. Wenn die Spanier den Islam nicht aufgehalten hätten, ist es nicht undenkbar, daß nicht nur Europa, sondern auch Amerika islamisch geworden wären. Es ist undenkbar, weil es nicht eingetreten ist, aber wie undenkbar ist es? »Das braucht uns nicht zu kümmern«, sagt eine Stimme mit österreichischem Akzent. Geschichte ist nur das, was der Fall war.
    »Alles, was unseres Wissens der Fall war?«
    »Alles, was der Fall war.«
    Es muß wahr sein. Auch das, wovon wir nichts wissen, ist passiert. Oder nicht?
    Ich verlasse mich jetzt einfach auf meine Augen. Dafür bin ich schließlich hierher gekommen. Ich habe noch einmal an die Klostertür geklopft, habe in der Ferne ein Radio gehört und später Frauenstimmen, ich habe sogar noch eine kleine weiße Klingel an einer geschlossenen Luke gefunden, doch ich bleibe ausgesperrt. Frauenstimmen? Leben hier keine Mönche mehr? Jetzt stehe ich wieder auf dem Klosterhof. Ist Beatus hier gewandelt? Hat er sich hier ausgedacht, daß Jakob von Compostela das glänzende Haupt Spaniens sei ( »cabeza refulgente de España« ), und damit den Anstoß zu dem Kult, der Pilgerfahrt und all ihren weltweiten Implikationen gegeben, wie Sánchez-Albornoz sagt?
    Ich betrachte die Bilder noch einmal Stück für Stück,

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