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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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trennt, ist Zeit, was uns verbindet, ist das steinerne Ding, andas ich mich lehne, Schutz vor dem Regen suchend, der immer der gleiche geblieben ist. Drossel, Taube, Krähe, die hätten uns verbunden, denke ich, da Tiere sich die Mühe gemacht haben zu bleiben, wie sie sind. »Das kommt daher, weil sie nicht denken können«, murmelt die Gegenstimme, und doch: Versetze die Taube, die sich dort zwischen den Zweigen des Apfelbaumes zu schaffen macht, tausend Jahre zurück. Vielleicht hört sie das Hämmern von Eisen auf Stein, wo sie diese Kirche gegen das erwartete Ende der Welt bauen, vielleicht hört sie das asturische Gemurmel der Männer, die die Steine nach einer Idee zurechthauen, die sie aus dem Kalifenreich der Omaijaden mitgebracht haben. Sie hört es oder sie hört es nicht, so wie sie mich jetzt mit dem alten Mann neben mir reden hört oder nicht. Nicht, denke ich, denn sie hat andere Sorgen, sie muß werben, sich paaren, ein Nest bauen, Taube sein. Grau und geflügelt würde sie damals, wie heute, mit ihrer Umgebung verschmelzen, niemand würde ihr den Verschleiß der vergangenen tausend Jahre ansehen, sie hat ihre Sprache, ihr Verhalten, ihre Tracht, ihre Bedeutung nicht geändert, sie ist ihr eigener fortdauernder Archetyp, willkommen zwischen Tauben und Menschen, beschäftigt mit der ewigen Wiederholungsübung aller Tauben: ein taubiges Dasein. Taube, duif, pigeon, paloma, der Vogel, den es schon gab, bevor er zum Geist ernannt und für heilig erklärt wurde, wenngleich es wohl Austernfischer geben wird, die sagen, daß die Idee des Einen bereits im Anderen eingeschlossen war.
    Ich, der ich kein Scholastiker bin, weiß es nicht, ich schütze mich vor dem Regen an der Kirche von Lebeña und sitze in meinem Zimmer im Gasthof Fuente Dé an einem Tisch voller Fotos, Notizen, Bücher. Ich muß hinaus, bevor es Abend wird, mit der Seilbahn die unerbittliche Bergwand hinauf. Ich darf nicht nach oben schauen, denn dann traue ich mich nicht mehr, die Drahtseile führen fast senkrecht in die Höhe, das versteinerte Buch voller Gekritzel und Durchstreichungen steht senkrecht vor meinen Augen, vor Angst kann ich nicht mehr lesen, bis ich hinter meinen geschlossenen Lidern ein weißes Glitzern sehe, einenRuck spüre. Wir sind oben. Das Zimmer, in dem ich gerade noch geschrieben habe, ist so klein geworden, daß ich nie mehr hineinpasse. Vor mir eine weiße Fläche, Schnee. Bis in die Ferne sehe ich eine Landschaft aus Berggipfeln, durch die Wolken wie Träume ziehen. Mir ist, als hörte ich das Gestein ächzen, aber es ist nur Stille, was ich höre, so gespannt, daß sie gleich brechen wird. Ist das das Schlimmste? Nein, das Schlimmste ist das Blau, so vollkommen und der Erde entrückt, daß ich einen neuen Namen dafür ersinnen müßte.
    Was kommt, ist kein Name, aber doch wieder etwas, das mich mit meinem zerschellten Zimmer da unten verbindet, mit einem Buch, das dort auf dem Tisch liegt, einer Miniatur in diesem Buch. Ein Engel mit roten Flügeln. Federn wie Schwerter. Er hebt seine ach so rote Posaune einem blauen Himmelsstreif entgegen, einer Sonne und einem Mond, die zu zwei Dritteln rot und zu einem weiß sind. Es ist der Engel von der vierten Posaune aus der Apokalypse, derselbe, den ich erst gestern im Kloster Santo Toribio, fünfzehn Kilometer von Santa María de Lebeña entfernt, gesehen habe, dem Kloster, in dem einst Beatus lebte. Doch das ist eine andere Geschichte. Der Fahrer der Seilbahn telefoniert mit der Bodenstation, andalusische Stimmen, seltsam in diesem lichten, winterlichen Norden. Ich bin der einzige Fahrgast, er gibt mir ein Zeichen, daß es losgeht. Noch einmal schaue ich zu diesem so barbarisch blauen Himmel hinauf. Kein Engel und kein Adler, aber erst, als ich unten bin, atme ich wieder ruhig.
    1986

W ARUM KOMMEN DIE L EUTE NICHT WEITER ALS BIS ZUR O STKÜSTE?
    Was war eigentlich das Besondere am ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, daß man einen eigenen Namen dafür erfand? Fin de siècle , Stil des Abschieds vom vergangenen Jahrhundert, Schwermut, Überfeinerung, Ermüdung, Erneuerung. Für das Ende unseres Jahrhunderts wird man sich etwas anderes einfallen lassen müssen, fin de millénaire , warum nicht? Schließlich geht in wenigen Jahren einiges zu Ende, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch in Zahlen. Ein Tausender rollt sacht der Vollendung entgegen, wenn wir Glück haben, erleben wir es, und während ich mich für das fin de siècle nie sonderlich interessiert habe, verspüre

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