Der Umweg nach Santiago
Schreckliche allgegenwärtig ist.
Unsichere Wege, zwar ein »Reich«, aber keine wirkliche Form von Regierung, Bandenunwesen, Pest, chronische Unterernährung und regelmäßig wiederkehrende Hungersnöte. Es gibt keine grauenvollere Beschreibung des »Zustands der Welt« als die von Raoul Glauber, einem Mönch aus der Benediktinerabtei Cluny, der ihn Ende des ersten Jahrtausends in seinen Historiarum libri quinque, IV : De fame validissima quae contigit in orbe terrarum schildert. Das Zitat, das Eco anführt, ist zu lang, um es hier wiederzugeben, aber schon ein paar Fetzen daraus sind genug, um jede Fernsehsendung über Äthiopien verblassen zu lassen.
So sah die Kehrseite der fröhlichen Bauernhochzeit aus: »Endlose Regenfälle, die die Erde in ewigen Morast verwandelten, so daß nicht gesät werden konnte und befürchtet werden mußte, das menschliche Geschlecht werde ganz aussterben (...) zur Erntezeit hatte verschiedenerlei Unkraut und das tückische Raigras die Felder vollständig überwuchert (...) wenn es irgendwo etwas Eßbares zu kaufen gab, wurde haarsträubender Preiswucher betrieben (...) nachdem die Menschen die wilden Tiere und Vögel, die sie fangen konnten, gegessen hatten, waren sie gezwungen, allerlei Ungetier zum Essen zu suchen und andere Dinge, zu schrecklich, zu berichten (...) es kam sogar so weit, daß die Menschen vom Hunger dazu getrieben wurden, Menschenfleisch zu verzehren (...) Reisende wurden von Leuten überfallen, die stärker waren als sie selbst, ihre Glieder wurden in Stücke gehackt, gekocht und gegessen (...) viele, die irgendwo eine Bleibe gefunden hatten, wurden nachts geschlachtet und dienten denen als Nahrung, bei denen sie untergekommen waren (...) andere lockten Kinder mit einem Ei oder einer Frucht, brachten sie um und aßen sie auf (...) und oft wurden Leichen aus der Erde geholt, um den Hunger zu stillen (...) man gewöhnte sich so sehr an den Verzehr von Menschenfleisch, daß es gekocht und zubereitet zum Markt gebracht und dort als Schafsfleisch verkauft wurde (...) wer dabei erwischt wurde, landete auf dem Scheiterhaufen (...) viele entnahmen dem Boden eine Art lehmiger Erde und vermischten sie mit dem wenigen Mehl, das sie hatten, und buken davon Brot, um nicht Hungers zu sterben (...) man sah bleiche, ausgemergelte Gesichter (...) viele hingegen waren so aufgebläht, daß ihre Haut überdehnt war (...) die menschliche Stimme war schrill geworden und glich dem Kreischen von Vögeln in Todesnot (...).«
Wundersam sind die Wege eines Textes. Nachdem Beatus’ Kommentar seine theologische und politische Rolle gespielt hat und ihm längst viele andere, heute vielleicht vergessene Apokalypsekommentare nachgefolgt sind, gären die Bilder, die der Mönch aus Liébana in dieser Schärfe herauf beschworen hatte, noch einpaar hundert Jahre weiter, bis sie sich in der apokalyptischen Wüstenei des zehnten Jahrhunderts endgültig vom Text lösen und ihren eigenen Weg gehen: Das Minuziöse wird Miniatur, das Bild aus Worten ein Bild aus Linien, Farben, Symbolen – so stark, so neu, so bestürzend, daß es die figurative Kunst Europas ein für allemal elektrisiert. Wie gesagt, als Worte haben sie Spanien verlassen, als Bilder sind sie entlang der Pilgerstraße nach Santiago de Compostela wieder zurückgekehrt, doch jetzt schwärmen sie nochmals, aus ebendemselben Spanien, als mozarabische Bilder aus, um so wieder in sämtliche Richtungen zu ziehen, aber um vor allem auf ebendieser »Milchstraße« (»la via lactea«) zurückzukehren.
Die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela ist eine gigantische Völkerwanderung hin und zurück, eine Bewegung von Millionen Fußgängern, ein endloser Strom von mit der Jakobsmuschel kenntlich gemachten Pilgern aus allen Ländern der Christenheit, der bei Mont St. Michel, in Tours, Vézelay, Le Puy und Arles aufgefangen und über die Pyrenäen auf dem eigentlichen camino nach Santiago geleitet wird. Was das an religiöser ferveur , politischer Tragweite, sozialer, wirtschaftlicher und künstlerischer Auswirkung beinhaltete, kann man sich kaum mehr vorstellen. Ganze Heerscharen waren jahrhundertelang ständig unterwegs in einem Europa, in dem der Fuß den Takt angab. Wer sich freiwillig oder als auferlegte Buße in diesen Strom einreihte, ließ in jenen unsicheren Zeiten alles zurück, der Traum aller Romantiker, nicht jener, sondern späterer Zeiten. So wurde diese Pilgerfahrt ihr eigener Mythos; die Bande zwischen dem Nordwesten Spaniens und
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