Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
ich bei diesem zweiten Tausender doch die gleiche kichernde Aufregung, wie wenn der Kilometerzähler im Auto auf die 100 000 zugeht. Schuld daran sind all die Nullen.
    Nullen sind schön, ohne Zweifel. Die Maya kannten die Null bereits tausend Jahre vor den Europäern und benutzten das runde Haus einer Schnecke, um sie darzustellen. Die Ägypter hatten kein Zeichen dafür, und das ist schade, denn sie sind so rund und vollkommen, die Nullen, leer und gleichzeitig voll, sie widersprechen sich selbst so lautstark, daß sie der Eins, die davorsteht, einen eigenartigen Mehrwert verleihen, wiewohl der sich im Vergleich zu tausend Jahren vorher beträchtlich verringert hat. Eine unumgängliche Entwicklung. Die Menschen des Mittelalters glaubten nicht nur, daß die Erde erst wenige Jahrtausende alt sei (selbst Kant dachte siebenhundert Jahre später auch erst in einer Größenordnung von einer Million), sondern glaubten, erregt durch das Nahen des tausendsten Jahres nach Christus, darüber hinaus, daß die Welt in Kürze untergehen werde. Wann genau, kam darauf an, beziehungsweise hing davon ab, ob man das Datum von Christi Empfängnis, Geburt oder Tod zugrunde legte.
    Wir, mit unserem so langen kurzen Gedächtnis, wissen, daß das nicht eingetreten ist. Das nimmt der Angst den Biß. Die Wahrscheinlichkeitunserer Vernichtung ist größer und kleiner geworden, aber niemand erwartet Armageddon auf den Tag genau am 1. Januar 2000 oder im Jahre 2033, wenn ich hundert werde oder geworden wäre.
    Vor tausend Jahren hatte die Angst ganz andere Ausmaße, und in der Gegend, in der ich mich gerade aufhalte, in den Bergen zwischen Kantabrien und Asturien, lebte und schrieb im achten Jahrhundert ein Mönch, der mit seinen Kommentaren zur Offenbarung des Johannes ganz Europa ein paar hundert Jahre in Atem hielt. Das Kloster hieß damals Liébana, heute Santo Toribio, der Name des Mönches war Beatus. Ich habe die Straße verlassen, um das Kloster zu suchen. Düster, Regen, kein Mensch zu sehen. Eine Pforte mit einem Türklopfer. Ich erwarte schlurfende Schritte, aber nichts passiert. Jetzt mißtraue ich dem trockenen »Tick« des Klopfers und schlage mit der Faust ans Tor. Dieses Geräusch hallt durch den Gang, aber nichts. Klopfet an, so wird euch nicht aufgetan. Das Gebäude ist nüchtern, geradlinig, es kann unmöglich dasselbe sein von damals. Ich laufe einmal außen herum, komme zu einer offenen Tür, die auf einen Klosterhof führt. Suchet, so werdet ihr finden. Die Mönche oder wer auch immer dort lebt, haben es sich leicht gemacht. In gleichmäßigen Abständen hängen dort Reproduktionen von Bildern, die einst Beatus’ Buch illustrierten.
    Er selbst hat diese Bilder, Illuminationen, Darstellungen nie gesehen, sie stammen von Mönchen, die seinen Kommentar in ihren Skriptorien kopierten. Angst und Kunst, verzweifelte Schwestern, die stilisierten mozarabischen Darstellungen flößen auch heute noch Angst ein. Stilisierte Angst, aber doch Angst. Angst vor Ungeheuern, Pest, Feuer, Hunger, Untergang, Angst vor der Prophezeiung. Beatus’ Buch war der Bestseller der Endzeit, vom Tod der Welt ist darin zu lesen. Der nahende Untergang hatte Künstler wie Leser so sehr gepackt, daß diese illuminierten Handschriften des Beatus-Kommentars bis auf den heutigen Tag nach ihm benannt sind, als Gattung: der Beatus Pierpoint-Morgan, der Beatus der Kathedrale von Gerona, der Beatus vonLiébana, der hier vor mir hängt. Bestseller habe ich zwar eben gesagt, aber ich hasse das Wort. Umberto Eco verwendet es in seinem Essay über Beatus, und auch wenn es unzutreffend ist, da es damals keinen »Markt« gab, zumindest nicht in unserem Sinne, so kommt seine Botschaft doch an: Die 650 Seiten, die Beatus vollkritzelte, sollten in den Jahrhunderten nach seinem Tod eine noch größere Wirkung haben als zu seiner eigenen Zeit.
    Worum ging es darin? Das Buch überlebt das Buch , ist eines der Zitate, die Eco in seinem Text verwendet. Und er fügt an einer anderen Stelle hinzu, die Welt sei ein Buch, das als Buch gelesen werden wolle. Die Welt ein Wald voller Zeichen, die gedeutet werden wollen, die sich gegenseitig deuten und »mit Bedeutung erfüllen«, niemand ist in einer solchen Welt mehr zu Hause als der Zeichendeuter Eco selbst, ein Heiliger in der Kirche eines Borges, Calvino, Barthes, Peirce. Eco, fast ist es zu kindisch, mit diesem Namen zu spielen, und doch: Man spürt den Genuß, wenn er sich, gerüstet mit seinem faszinierenden Wissen von

Weitere Kostenlose Bücher