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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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dem freien Asturien und dem Karolingischen Reich andererseits. Es ist eine Metropole im kosmopolitischen Sinne des Wortes, hier existieren verschiedene Kulturen nebeneinander, beäugen sich, stehlen und entlehnen voneinander. Die Christen sind stolz auf ihre westgotischen Traditionen und öffnen sich gleichzeitig der arabischen Welt, eine Öffnung, die sich später als außerordentlich wichtig aufgrund all dessen erweisen wird, was arabische Gelehrte vom griechischen Erbe bewahrt und übersetzt haben. In dieser mozarabisch-christlichen Welt entsteht der Irrglaube des Adoptianismus, mit Elipandus und seinem Verbündeten Felix, Bischof von Seo d’Urgel, das übrigens nicht unter arabischer Herrschaft steht, als Hauptvertretern. Ich bin ein zu geringer Kopist, um alle Hintergründe der heterodoxen Irrwege, trinitarischen Unsicherheitenund theologischen Haarspaltereien jener Zeit aufzudecken, denn dafür müßte man selbst gespaltene Hufe haben. Was mich interessiert, ist das Schauspiel, der Mechanismus, weil Zeit und Politik eine solch phantastische Rolle darin spielen.
    Adoptianismus ist, kurz gesagt, die Lehre, wonach Christus von Gott dem Vater lediglich adoptiert wurde, selbst also kein Gott war. Zuerst das Bild: Wie langsam findet diese Theorie ihren Weg hinauf in jenen fernen Norden, wo Beatus lebt, und wie lange dauert es, bis er seine 650 Seiten vollgeschrieben hat, in denen er Elipandus der Ketzerei bezichtigt, und bis seine Anklageschrift nicht nur Elipandus (»der zum Leib des Teufels gehört«), sondern das gesamte christliche Spanien und die christliche Welt jenseits ( allende heißt das auf spanisch) der Pyrenäen und schließlich gar den Hof Karls des Großen erreicht hat. Zwischen These und Replik vergingen Wochen oder Monate. Die Geschwindigkeit des Streitgesprächs wurde von der Geschwindigkeit von Roß und Reiter diktiert: Es gab einfach keine andere Zeit.
    Elipandus nimmt die Sache sehr ernst, er nennt Beatus einen Inbeatus oder »Antiphrasius Beatus« , sagt, daß er »carnis lasciviae editus« (ein Schmierfink, wollen wir mal übersetzen) sei, »antichristi discipulus, ab altario Dei extraneus, pseudo Christus et pseudo propheta« , und auch diese Worte werden wieder in Ledertaschen und auf Pferderücken durch ganz Europa getragen, bis vor die Throne von Papst Hadrian und Karl dem Großen. Ich bin ein Kind meiner Zeit: Davon möchte ich ein Bild, so eine fast synchrone Einstellung, bei der ich den Geheimschreiber Karls das Siegel erbrechen sehe, und dann, gleichzeitig, in Rom den Papst, der eine Botschaft an Elipandus in Toledo senden läßt, während Beatus in jenem Kloster, vor dem ich noch immer stehe, »cette haute Thébaide cantabrique« , an seinem Kommentar zur Apokalypse weiterkritzelt, weil er damit beweisen will, daß der thronende Christus (Majestas Domini), den er Wort für Wort in seiner Schrift anführt, in der »Fülle seiner konsubstantiellen Göttlichkeit und Herkunft« existiert.
    Beatus gewinnt die Schlacht, Karl der Große beruft zwei Konzileund eine Synode ein (auch das will ich sehen, wie sie auf brechen, wie sie reisen, wo sie schlafen, was sie sagen), und Elipandus samt Felix und ihren Anhängern werden verurteilt. Nicht, daß das irgendwelche Folgen für die Protagonisten hätte: Der Bischof zur Kriegszeit, der Elipandus ist, setzt sich über die Entscheidungen von Karls Konzilen hinweg. Natürlich, denn diese Ereignisse hatten auch eine politische »Logik«. Karl und der asturische König wollen die christlichen Bistümer im Norden aus der Zugehörigkeit zum Erzbischof von Toledo lösen, der im arabischen Gebiet lebt. Die bitteren Worte, die die Verurteilung begleiteten – das Unglück, das die spanische Christenheit unter dem moslemischen Joch erleide, sei eine gerechte Strafe des Himmels –, haben wiederum zur Folge, daß die spanischen Christen sich der karolingischen Renaissance verschließen.
    In einer solchen Geschichte steht nichts für sich, alles ist mit verschiedenartigen Fäden ineinander verschlungen, Fäden der Interessen, der Ideen, der Personen, der Macht, der Natur. Der Beatus-Kommentar, der bezweckte, einen Irrglauben im achten Jahrhundert zu bekämpfen, wird nicht deshalb, sondern gerade wegen seiner endzeitlichen Aspekte das Buch des zehnten Jahrhunderts, als Europa eine verheerende Hungersnot erlebt. Dieselben Worte erhalten eine andere Bedeutung, Leidende und Sterbende erkennen sich in den Prophezeiungen des Schrecklichen wieder, weil das

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