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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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aber sie irritieren mich, da sie das Alibi sind, um mich nicht einzulassen. Ich werde abgewimmelt, mit Reproduktionen abgespeist, und ich will, da ich schon einmal so weit gekommen bin, den Schockdes Echten, ich will, wenn niemand es sieht, mit den Fingern über das Pergament streichen, wie ich es einmal in El Burgo de Osma bei der mappa mundi eines anderen Beatus tat.
    Mit diesem Gefühl läßt sich nichts vergleichen, dann schmelzen plötzlich tausend Jahre unter den Fingerspitzen, dann sieht man den Mönch in seinem Skriptorium über sein greuliches Panoptikum gebeugt, der Osten in den Osten gedrängt, die Phantasien von Patmos durch die mozarabische Darstellung nochmals gesteigert, die Engel mit ihren scharlachroten Posaunen, die gesunkenen Schiffe, die den Tod verkündenden Reiter, und ich lese, im Auto, im Regen, die Worte, die dazu gehören ... »und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach ...« und fahre weg, in die grüne, nie zerstörte Natur hinein, den bösen Traum von Patmos hinter mir lassend.
    Jetzt ziehe ich selbst über die Pässe, über die die zerlumpten Heerscharen zogen, nach Süden über den Puerto de San Glorio und dann hinter Riaño wieder in die Höhe durch die tückische Schlucht Desfiladero de los Beyos. Natürlich gibt es hier noch Bären. Die Berge sehen selbst wie Tiere ohne Augen aus, der Boden ist grau, schwarz, braun, gelb, der Wind weht, wohin er will, und fegt ums Auto, das Wetter will diese Berge abtragen, skurrile Bäume klammern sich verkrampft ins graue Gestein, Spukgestalten, Männer, die durch den Nebel irren, schwarze Streifen an der Bergwand, der Teufel hat dorthin geschissen, die Gipfel sind in den Wolken verborgen, die mit mir ziehen, fett und grau, darin kocht der Gehörnte seinen Höllenfraß. Ein Gasthof, eine Frau in Schwarz, ein Teller Bohnen, eine Kirche, zwei steinerne Wächter, die Dreispitze tragen, wo war das alles?
    Erst Stunden später komme ich nach Covadonga, wo Pelayo die Schlacht für Spanien gewann. Heiliger Boden, wenngleich verseucht durch Frömmigkeit als Kommerzartikel, die falsche Kirche, das falsche Standbild des Helden mit Schwert. Autobusse, Ausflügler, Souvenirs, ein Gedenkstein an der Stelle, wo S . S . M . M . y A . A . R . R ., die Königin von Spanien, D a . Isabel, undihr erlauchter Gemahl, D n . Francisco de Asis, nebst den serenísimos señores , dem Prinzen von Asturien und María Isabel, der spanischen Infantin, am 28. August 1858 gestanden haben, und daneben ein Gedenkstein, der an einhundert Jahre nächtlicher Anbetung der Jungfrau erinnert, die Spanien in den Sieg führte, doch ich habe eine Verabredung mit älteren Königen als diesen späten Bourbonen des neunzehnten Jahrhunderts und eile aus diesem verschacherten Geisterort fort.
    Die darauffolgenden Tage verbringe ich in Oviedo, trinke Cidre und esse fabada , ein Bohnengericht mit schwarzen und roten Würsten, morcilla und chorizo. Die Kneipen sind schön dunkel, die Leute fröhlich, ein unabhängiger Menschenschlag, eine Region für sich, man kann dort herumlungern und lesen und laufen, hier herrscht nicht die pathologische Mordlust der ETA , die das Land verseucht. Träge Tage. Im archäologischen Museum lese ich die Waffen und die Namen, die Perlen in den Kronen, die Anker am Kreuz, die Runen auf den Gräbern. Es ist niemand außer mir da, und ich schreibe mit den Fingern die unlesbaren Worte nach, ziehe die keltischen, westgotischen, asturischen Motive nach, als meißelte ich sie eigenhändig in den Stein, streichle die Steine, die gezeichneten, losen Bruchstücke, die Wut oder Krieg oder Brandstiftung aus ihrem Verband gerissen haben, Schwellen, Kapitelle, halbe Säulen aus unsichtbaren, verschwundenen Kirchen, zerbrochene Sätze, verstümmelte Texte, zerrissene Namen und Wahlsprüche, Menschenwerk, Erbe.
    In der Kathedrale die Kreuze der frühen Könige, La Cruz de Los Angeles, La Cruz de la Victoria, atavistische, sakrale Gegenstände aus der Zeit Alfons’ II . und III ., asturische Könige aus dem frühen neunten und zehnten Jahrhundert. Das erste Kreuz ist sich selbst zum Widerspruch geworden, äußerst schlicht, von griechischer Form, die Arme an den Enden breiter werdend, Zedernholz, aber bedeckt mit Gold und Filigran, besetzt mit cabujones und canafeos , unpolierte Edelsteine und Kameen; das zweite erinnert an den karolingischen Schmuck aus den Schatzkammern des Rheinlands, Gold, Edelsteine, die daraufliegen wie

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