Der Umweg
gewesen, oft auch tagsüber, vor allem an den Wochenenden. Den Ton hatte man bei seiner Ankunft um fünf Stufen leiser gestellt, er war aber immer noch störend laut. Gesinge und Jurygeschwätz, zwischendurch reißerische Werbung.
»Wir haben bald Dezember«, sagte die Schwiegermutter.
»Ja«, sagte der Mann.
»Allmählich ist es wirklich kein Spaß mehr.«
»Was sollen wir machen?« fragte er.
»Es ist alles deine Schuld.«
»Meine Schuld?«
Die Schwiegermutter schaute ihn mit einer Miene an, die ausdrückte, daß sich jede Erklärung erübrige und er wohl selbst am besten wisse, warum er der Schuldige sei.
»Ja«, sagte der Schwiegervater, ohne den Mann anzusehen. Es war das erste Mal, daß er den Mund aufmachte.
»Was, ja?« fragte die Schwiegermutter.
»Ach, nichts«, antwortete der Schwiegervater.
Sie seufzte. »Was soll das für eine Adventszeit werden? Nikolaus, Weihnachten.« Sie zeigte mit einer schlaffen Handbewegung in Richtung Fensterbank, auf der schon Kerzen in einem Dreieckständer brannten. Die Flammen bewegten sich nicht, die Fenster waren gut isoliert.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte der Mann.
»Pah!« sagte der Schwiegervater.
»Was?« fragte die Schwiegermutter.
»Der kann überhaupt nicht singen!«
»Hat sie so was öfter gemacht?« fragte der Mann. »Ich meine, vor meiner Zeit?«
»Nie! Sie ist nie einfach verschwunden. Sie wollte ja nicht mal woanders übernachten, bei Freundinnen zum Beispiel.«
»Bei meinem Bruder schon«, sagte der Schwiegervater.
»Stimmt. Da wollte sie immer gern hin. Zu ihrem Onkel, die Tante hat sie gar nicht erwähnt. Die beiden waren ein Herz und eine Seele.«
»Er hat ihr das Rauchen beigebracht«, sagte der Schwiegervater.
»Ha, ja. Und sein Gerede hat sie immer so aufsässig gemacht. Komisches Gerede, wenn sie nach Hause kam, dauerte es Tage, bis sie wieder mehr oder weniger normal war.«
»Was hat er denn gesagt?« fragte der Mann.
»Daß sie allein zurechtkommen muß. Daß der Mensch im Leben auf sich allein gestellt ist. Daß es ihr egal sein kann, was andere denken.«
»Das ist doch eigentlich nichts Schlimmes.«
»Nein, aber sie nahm alles wörtlich, und dann lief sie weg. Die Tante in heller Aufregung, und der Onkel grinst sich eins. Und wenn sie nach Hause kam, war es ihr völlig egal, was wir sagten.«
»Also ist sie doch schon mal weggelaufen!«
»Nein, eine Stunde vielleicht, nie lang. Höchstens zwei Stunden. Als wir das mit dem Rauchen erfahren haben, war aber wirklich Feierabend. Wir haben ihr dann verboten, da zu übernachten.«
»Mein Bruder ist nicht … ganz in Ordnung«, erklärte der Schwiegervater.
»So kann man es auch ausdrücken, ja«, meinte die Schwiegermutter. »Man könnte auch sagen, er ist total verrückt.«
»Na …«
»Ich hab immer Angst, daß er« – sie zeigte auf ihren Ehemann – »auch mal so wird. Zum Glück hat er ja eine sehr vernünftige und starke Frau.«
»Einen Schnaps?« fragte der Schwiegervater.
»Gern«, sagte der Mann.
»Ja, fangt nur an zu trinken. Das löst alle Probleme.«
»Du auch einen?« fragte der Schwiegervater.
»Nein, natürlich nicht! Trinke ich je einen Tropfen Alkohol?«
»Man ist nie zu alt zum Lernen.« Der Schwiegervater stand auf und füllte am Büfett zwei Gläser mit Oude Jenever. Sein eigenes goß er so voll, daß er gebückt einen Schluck abtrinken mußte, um es tragen zu können. Sobald er das andere Glas dem Mann hingestellt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu.
»Ja«, sagte die Schwiegermutter und seufzte. »Daß er auch mal so wird …«
»Ach, Frau.«
Sie begann leise zu weinen.
Der Mann trank von dem Oude Jenever. Er fragte sich, ob es wirklich seine Schuld war, wie seine Schwiegermutter behauptet hatte. Eine Windbö, die Regen ans Fenster warf, übertönte kurz den Gesang eines dicken Mädchens mit strähnigen Haaren, das reglos in einem großen Saal stand. Sie hatte eine wunderschöne, klare Stimme, beim Singen schien sie alles um sich herum zu vergessen, ihre Augen funkelten, ihre Hände hingen völlig entspannt neben ihren Oberschenkeln; sie wurde schön. Wenig später bekam sie zu hören, daß sie leider nicht in die engere Wahl komme, weil es ihr an der erforderlichen »Ausstrahlung« fehle. Der nächste bitte.
»Man hält es doch nicht für möglich«, sagte der Schwiegervater.
Während eines Werbeblocks fing die Schwiegermutter wieder an. »Mußt du nun ins Gefängnis?«
»Nein«, antwortete der Mann. Vor ihm
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