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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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    »Kann man dieses Haus überhaupt richtig beheizen?« fragte Awen.
    »Ohne Probleme«, antwortete sie.
    »Findest du’s nicht sehr einsam und abgelegen?«
    »Nein, könnte schlimmer sein. Es gibt da ein paar Gänse. Und natürlich eine Menge Schafe.«
    »Du bist allein? Ohne Mann?«
    »Die Witwe Evans hat auch bis zuletzt ihr Brot hier gekauft«, sagte der Bäcker laut, als wolle er seine Frau übertönen.
    »Schaff dir einen Hund an«, schlug Awen vor.
    »Womit kann ich dienen?« fragte der Bäcker.
    Eigentlich hatte sie fragen wollen, wie und wann die Witwe Evans gestorben war, aber das Bäckerehepaar hinter der Theke schaute sie so erwartungsvoll und neugierig an, daß sie zwei Brote und zwei Packungen Kuchen verlangte.
    »Auf Wiedersehen«, sagte sie, während sie die Sachen in ihrem Rucksack verstaute.
    »Bis das Brot alle ist«, sagte der Bäcker. »Bald haben wir auch Weihnachtsstollen.«
    »Ein Hund«, rief die Bäckersfrau ihr nach, »das ist ein echter Freund.«
    Sie schloß die Ladentür und betrachtete den Himmel. Er war grau. Grau und an manchen Stellen fast schwarz, aber es regnete nicht. Sie warf einen Blick auf den Mount Snowdon und erinnerte sich, daß der Berg auf dem Rückweg linker Hand liegen mußte. Als sie vom Gehweg hinuntertrat, schaute sie sich kurz um. Der Bäcker ohne Namen und seine Frau Awen starrten ihr nach, sie hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Sie winkten nicht, sie starrten.
    Sie nahm nicht genau den gleichen Weg zurück; an fast allen Stellen, an denen sie auf dem Hinweg falsch gegangen war, ging sie diesmal richtig. An fast allen, einmal verlief sie sich doch wieder und brauchte sehr lange, bis sie merkte, daß sie der verkehrten gestrichelten Linie folgte. Hier sah es überall gleich aus, Hecken aus dornigen Sträuchern, gedrungene Eichen, Grasland, eiserne Wassertröge, und immer hörte man das Konzert der Vögel. Das fand sie merkwürdig, es war Ende November, und die Vögel taten, als wäre es Frühling. Aus Versehen landete sie an der T-Gabelung, von der aus sie zum ersten Mal den Berg gesehen hatte, und weil sie nun wußte, wo sie war – die Karte brauchte sie nicht mehr –, setzte sie sich erst einmal hin, hier konnte sie sich mit dem Rücken an einen Holzzaun lehnen. Sie nahm eine Packung Kuchen aus dem Rucksack und aß sie halb auf; sie hatte reichlich Zeit, den Berg eingehend zu betrachten. Trotz des trüben Wetters konnte man an ihm verschiedene Farben erkennen: Braun, Ocker, Grün, sogar etwas in Richtung Violett. Er kam ihr nicht sehr schwierig vor.
    Es schien schon leicht dämmerig zu werden, als sie wieder in Richtung Zufahrt ging. Unterwegs mußte sie sich an einem Baum festhalten. Sie konnte nur gebeugt stehen; wenn sie sich aufrichtete, staute sich der Schmerz, bei gekrümmter Haltung verteilte sich der dumpfe Druck, was ihn erträglicher machte. Sie hätte nicht sagen können, wo genau der Schmerz saß, sogar in den Armen und Beinen war dieses Nagen und Bohren. Sie rieb sich den Bauch und die Oberarme, legte kurz die Hand auf die Stirn und dachte an ihren Onkel. Etwas später, als sie vorsichtig weiterging, sah sie Emily Dickinson, wie sie in ihrem herbstlichen Garten auf und ab ging, eine erste Zeile im Kopf – The murmuring of bees has ceased –, und darüber nachsann, wie sie dem Gedicht weiterhelfen konnte. Nein, nie von einer Biene gestochen worden, diese Dickinson.
24
    Am nächsten Morgen nahm sie sich Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Sie hatte das Essen vernachlässigt, regelmäßig das Abendbrot ausgelassen. Wenigstens trank sie genug. Die Uhr zeigte halb zehn. Wenn es im Haus ganz still war, konnte sie das Ticken hören, ein scharfes, boshaftes Klick-klick. Sie wollte es nicht, wollte keine Zeit in ihrer Küche, am liebsten hätte sie die Uhr angehalten, aber schon bei der Vorstellung, einen Stuhl darunter zu stellen, wurde ihr flau vor Müdigkeit. Die Uhr anhalten, nicht nur, um keine Zeit mehr zu haben, sondern auch, um diesen ungehobelten Schafzüchter zu ärgern. Sie dachte oft an Rhys Jones und regte sich dann jedesmal auf.
    Aus dem Wohnzimmer und den beiden Zimmern oben hatte sie etwas gemacht, zumindest hatte sie es versucht; die Küche sah noch genau so aus, wie sie von der Witwe Evans hinterlassen worden war. Ein altweiberhafter Geruch hing in dem Raum, ein Geruch, den sie allmählich auf sich selbst bezogen hatte. Sogar die alte Waschmaschine schien davon infiziert zu sein; wenn sie Wäsche aufhängte,

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