Der Umweg
wo sie stand, damit ihr keiner der dicken Äste auf den Kopf fiel. Nachdem sie fünf abgesägt hatte, reichte es ihr. Für heute hatte sie doch mehr als genug geschafft. Mit der neuen Rosenschere schnitt sie die Zweige und dünnen Astspitzen ab und schleifte die Äste an den Rand der Wiese. Beim Abstechen war zwischen Gras und Weg eine schmale Rinne entstanden, und in diese Rinne legte sie der Reihe nach die Äste. Danach setzte sie sich auf die Türstufe. Es sah ordentlich aus, die Äste waren dick genug als Begrenzung. Erst jetzt fiel ihr auf, daß die Wiese eigentlich ein Rasen war, daß irgend jemand hier vor nicht allzu langer Zeit gemäht haben mußte. Die Kühe waren verschwunden; als sie aufstand, stellte sie fest, daß sie sich ein gutes Stück entfernt hatten. Das hatte sie gar nicht bemerkt. Eine schöne Art, das Verstreichen der Zeit zu messen: am Weiterziehen der Sonne, die plötzlich an einer ganz anderen Stelle steht, ziemlich tief schon wieder, an den wandernden Schatten, am Ortswechsel einer Gruppe von Kühen, die gemächlich und ganz leise fortgetrottet sind. Sie nahm diese Dinge zum ersten Mal bewußt wahr und dachte an ihre Dissertation.
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Emily Dickinson. Trotz ihres Ansehens ( probably the most loved and certainly the greatest of American poets wurde sie auf der hinteren Umschlagklappe von Habeggers Biographie genannt) fanden sich in ihrem Werk doch auch jede Menge Holperverse, billiges Vierzeiler-Gereime. Mit nur flüchtig gesäuberten Fingern, die Nägel noch schwarz von Erde, blätterte sie in den Collected Poems . Es war Abend, stockfinster bis auf wenige schwache Lichter in der Ferne. Sie trank ein Glas Wein und rauchte. Unten stand noch ein Topf mit Essen auf der Anrichte, eine komplette Mahlzeit. Im Kamin brannte Feuer. Nie von einer Biene gestochen worden, überlegte sie. Überall Bienen, in einer gentle breeze oder im clover . Sie dachte an ihr Büro an der Universität, an den kalten Computer mit ihren Notizen zu Dickinson und nicht viel mehr als einem Exposé zu ihrer Dissertation, die den ihrer Ansicht nach recht hohen Anteil an Gedichten minderer Qualität zum Thema haben sollte und die Heiligsprechung Dickinsons durch ihre vielleicht allzu unkritische Gemeinde. Sie sah die Zimmerpflanzen vor sich, die stählernen Aktenschränke, und durch das Fenster, das zu einer langen, schmalen Straße hin lag, auch Schnee. Das ungenießbare biographische Mammutwerk von Habegger, voll Fragwürdigkeiten und unsinnigen Thesen (er ging so weit, den Hustenanfall eines Großonkels zweiten Grades im Frühjahr 1837 als Erklärung für eine gewisse Art von Sensibilität anzuführen, die sich angeblich in Dickinsons Gedichten spiegelte), hatte ihre Arbeit an der Dissertation auf Monate lahmgelegt.
Sie zerknüllte das Blatt Papier, auf das sie Vorhänge geschrieben hatte (das Fenster im kleinen Schlafzimmer war immer noch unverhängt), und griff nach dem weichen Bleistift. Sie dachte sich nach draußen, ins Tageslicht, auf den Weg, mit dem Rücken zur Haustür. Zeichnete den Rasen, den leicht gewundenen Bach, das Mäuerchen als L vom Bach her um die Wiese herum, den Schweinestall schräg neben dem Haus, den neuen, geraden Weg an der Vorderfront. Die drei Erlen und die drei Sträucher. Schade, daß sie keine Buntstifte hatte. Auf dem Papier entstand ein weiterer Weg, von der Haustür geradeaus über den Rasen bis zum Mäuerchen. Blumenbeete. Sie versuchte auch einen Rosenbogen zu zeichnen, was viel schwieriger war als erwartet. Er verdarb die Zeichnung, und einen Radiergummi hatte sie nicht. Auch dieses Blatt zerknüllte sie. Schob sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen und nahm wieder die Collected Poems zur Hand, schlug das Buch beim Inhaltsverzeichnis auf. Diese Sammlung begleitete sie schon eine ganze Weile – sie hatte Anmerkungen darin gemacht, die Blätter waren fleckig, der Schutzumschlag eingerissen –, aber jetzt bemerkte sie zum ersten Mal, wie kurz der Teil LOVE war und wie lang der letzte Teil TIME AND ETERNITY . Sie begann zu weinen.
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Der Mann saß in dem Wohnzimmer, das für den neuen Fernseher zu klein war. Seine Schwiegermutter neben ihm auf dem Sofa, sein Schwiegervater auf einem Sessel vor dem Fernseher. Ein böiger Wind trieb Novemberregen gegen die Scheiben, eine Straßenlampe schwang hin und her. Der Fernseher lief, wie bei seinem allerersten Besuch vor ziemlich vielen Jahren und bei den meisten seiner späteren Besuche, zumindest abends war er immer eingeschaltet
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