Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
Vom Netzwerk:
lehnte sich mit dem Rücken an die Stallmauer. Die Sonne schien, es war fast windstill. Keine Spur von Schnee oder Winter mehr; wie vor einiger Zeit strahlten die hellen Steine Wärme ab. Und wie vor einiger Zeit stieg der Rauch ihrer Zigarette senkrecht auf.
    »Vielleicht wurde sie lange vor meiner Geburt gekauft. Komische Vorstellung.«
    Sie drehte den Kopf. Auf der Weide jenseits der Gartenmauer standen keine Kühe, alles wirkte einsamer dadurch. Ein Schwarm lärmender schwarzer Vögel – sie versuchte sie gar nicht erst zu benennen, die Auswahl war für sie zu groß, Rabenkrähen, Elstern, Dohlen, Saatkrähen, Raben – flog von einem Baumwipfel zum nächsten, innerhalb einer Minute schienen die Vögel feststellen zu können, ob ein Baum geeignet war.
    »Oder kann etwas in Öl gar nicht schlecht werden?«
    Er hatte angefangen, das zweite der rechteckigen Rosenbeete zu harken. Die Erde war hellbraun, nicht schwarz. Keine einzige Wolke hing drohend am Himmel. Die Gänse, von hier aus nicht sichtbar, kollerten leise. Zufrieden, nicht ängstlich. Sie hörte dem Jungen zu, obwohl nicht alles, was er sagte, bei ihr ankam. Vielleicht war er froh, daß ihm nicht mehr übel war, daß er eben zum Kaffee wieder ein Stück Kuchen hatte essen können. Sie hatte kein Bedürfnis zu antworten. Er arbeitete, schwitzte, fühlte sich gesund und lebendig. Sie zog an ihrer Zigarette, die sie zwischen den Fingern der linken Hand hielt, der Hand, die er – bevor er mit der Anchovistheorie kam – für seine Kotzerei verantwortlich gemacht hatte, ob nun im Scherz oder nicht. Der Geruch der alten Frau umgab sie wieder, oder immer noch, sogar hier draußen in der frischen Luft und trotz des Zigarettenrauchs. Sie warf die Kippe weg und öffnete die Stalltür. Es war nicht mehr viel Brennholz übrig, der Vorrat war zusammengeschrumpft, ohne daß sie es gemerkt hatte. Schon seit einiger Zeit hatte sich der Junge um den Ofen und den Kamin gekümmert. Wie er auch zum Tesco-Markt und zum Bäcker in Waunfawr fuhr. Vom letzten Arztbesuch abgesehen, hatte sie das Grundstück lange nicht mehr verlassen. Als sie hier angekommen war, hatte sie ihre Welt klein gehalten; später hatte sie sich weiter hinausgewagt, hatte sich die Haare schneiden lassen, hatte bei den Kühlregalen im Tesco-Markt Heimweh bekommen, war zu Fuß zum Bäcker gegangen und in das Wasserreservoir gestiegen – und jetzt war die Welt wieder eng begrenzt. Das Heimweh war verflogen, fast unmerklich. Der Garten, die Gänseweide, das Haus. Ihr Bett. Die Ablage unterm Badezimmerspiegel. Die Tablettenschachteln. Ein ganzes Leben in ein paar Monaten. Bis zum 1. Januar. Denn es waren nicht ihr Haus und Garten, nicht ihre Spiegelablage. Sie war eine Touristin, eine zufällige Passantin. Eine Ausländerin, eine Deutsche für die meisten hier.
    »Ich pflanze sie jetzt ein«, rief Bradwen.
    Sie starrte durch die Luke auf die grünlichen Steinplatten des Kellerbodens. Stellte sich vor, daß in dem großen schwarzen Wagen des ungehobelten Schafzüchters Bradwen gesessen hätte und nicht der Hund. Daß Sam jetzt hier herumstöberte.
    »Ich möchte auch noch einen Bogen«, sagte sie. Eingepflanzt sahen die Rosensträucher doch etwas spärlich aus. In den Töpfen hatten sie viel größer gewirkt. »Hier, wo der neue Querweg in den Weg mündet, als eine Art Tor. Und dann mußt du auch zwei besondere Rosensträucher kaufen, Rosen, die gerne klettern.«
    » Ramblers «, sagte der Junge.
    »Heißen die so? Nimm das Auto, und fahr zu Dickson’s Garden Centre.«
    »Jetzt?«
    »Wieso nicht? Ich gebe dir Geld.«
    »Ja.«
    Sie nahm hundert Pfund aus ihrem Portemonnaie und reichte ihm die Scheine.
    Als er weg war, hob sie den Deckel vom Abfalleimer. Nach kurzem Suchen fand sie die leere, fettige Anchovisdose. Sie ging damit zum Fenster über der Anrichte. Best before: June 1984 stand auf der Rückseite, eigentlich leicht zu entziffern. Der Junge hatte tatsächlich recht.
    Sie schaute aus dem Fenster. Aus einem unsichtbaren Schornstein, hinter Eichen versteckt, stieg Rauch auf, wie an einem drückenden Junitag, Rauch von einem Herd, nicht von einem Ofen, Hummeln und Bienen tanzten Walzer vor dem Küchenfenster, Schmetterlinge flogen von roten Rosen zu gelben Rosen; die Gartenmauer war zwei Steinreihen höher, ein Bauer wendete mit einem mattroten Traktor Heu, und die Erlen am Bach waren kugelrund. Sie trug einen Haarknoten und hatte eine Schürze umgebunden, vielleicht war sie schon Witwe, oder der Bauer

Weitere Kostenlose Bücher