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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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auf dem mattroten Traktor war Herr Evans, und sie stand im Begriff, ihm einen Imbiß zu bringen. In einem Korb. Sie preßte den Bauch an den Rand der Arbeitsplatte und überlegte, ob sie kaltes Bier in den Korb tun sollte, zwei Flaschen, das reichte, um Evans träge zu machen, damit er sich unter einer der Eichen ausruhte und eine Weile das Heu vergaß, sich im Schatten ausstreckte, mit ihr. Warm genug, sich auszuziehen.
    Sie warf die Dose in den Abfalleimer zurück und wusch sich die Hände mit eiskaltem Wasser. Zog ihre Wanderschuhe an, ohne sie richtig zuzuschnüren. Dann ging sie die Treppe hinauf.
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    Er hatte das Porträt von Dickinson wieder mit der Vorderseite an die Wand gestellt. Seufzend drehte sie es um. Schon seit Wochen schlief der Junge im schönsten Zimmer des Hauses, dem einzigen mit Fenstern nach zwei Seiten. » Dual aspect «, würden die Landhaus-Interessenten in Escape to the Country erfreut ausrufen. » So light and bright and airy in here! « Schon seit Wochen der offene Gedichtband auf dem Eichentisch, daneben die leeren Blätter, ein Bleistift und ein Kugelschreiber. In Habeggers viel zu dicker Biographie wurde das Gedicht nicht einmal erwähnt, geschweige denn besprochen. Plötzlich empfand sie Wut, nicht nur auf den Biographen, das alte Waschweib, sondern auch auf Dickinson selbst. Diese Frau, die Zuwendung erzwang, auch wenn sie sich in ihrem Haus und ihrem Garten versteckte. Die mit allem, was sie tat oder nicht tat, wortlos ausdrückte, daß sie nicht beachtet werden wollte, und doch um Anerkennung bettelte wie ein Kind, voller Angst, ihre – meistens in Briefen ausgedrückten – Sympathien könnten unerwidert bleiben. Eine zarte Frau, die sich selbst klein machte, sicher auch ängstlich war, die Briefe mit » Your Gnome « unterschrieb; die während der Totenfeier für ihren verstorbenen Vater, zu der man sich in der großen Vorhalle des Hauses versammelt hatte, scheu in ihrem Zimmer blieb, ihre Tür allerdings einen unübersehbaren Spalt offenließ und so doch die meiste Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. »Auch ohne daß wir in Berührung kamen, saugte sie all meine Energie auf. Ich bin froh, daß ich nicht in ihrer Nähe wohne«, hatte einer der Männer geschrieben, mit denen sie korrespondierte. Eine Frau, die irgendwann anfing, sich wie eine Jungfrau weiß zu kleiden. Erst jetzt wurde ihr klar, daß diese Wut die Triebfeder zum Schreiben ihrer Dissertation gewesen war. Eine kritische Untersuchung der – ihrer Ansicht nach zu einem großen Teil überschätzten – Gedichte hätte es werden sollen. Fast eine Abrechnung. »Nicht gut«, sagte sie leise. »Gar nicht gut.«
    Sie nahm den Gedichtband und die Biographie vom Tisch und ging wieder hinunter. Die Wanderschuhe polterten auf der hölzernen Treppe. Bevor sie hinausging, warf sie die Biographie in den Abfalleimer, die leere Anchovisdose schob sie auf das Buch. Noch weniger gut war, daß sie sich jetzt und hier immer noch aufregte. Den Gedichtband legte sie auf den Tisch. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und schnürte ihre Schuhe fest zu.
    Sie überquerte den Bach und versuchte, nicht an die Entfernung zu denken, die sie zurücklegen mußte. Einfach Schritt für Schritt gehen, auf ihrem Weg. Sie hatte einen Erlenast aus dem Stapel gezogen, der als Wanderstock bis knapp über ihre Taille reichte. Den schwenkte sie nun nach vorn, setzte ihn auf, schwenkte ihn wieder nach vorn. An den stiles hätte sie drei Hände gebrauchen können; erst wenn sie auf der anderen Seite stand, ließ sie den Pfahl oder das oberste Brett los. Es war still im Eichenwald, von den moosbewachsenen Stämmen und Ästen stieg leichter Dunst auf. Nirgends waren Tiere zu sehen. Keine Kühe, keine Schafe, nicht einmal Grauhörnchen. Sie konnte sich vorstellen, daß Eichhörnchen, daß alle wilden Tiere mit einem Pelz Winterschlaf hielten. Ihr wurde warm. Aus dem Kragen ihrer dicken Jacke stieg ein bekannter Geruch auf. Der Geruch der Witwe Evans.
    Am Steinkreis hatte sie sich eigentlich hinsetzen wollen, beschloß aber weiterzugehen. Die Steine waren trocken, die Flechten hellgrau und fahlgelb. In der Nähe des Stechginsters hing ein kaum wahrnehmbarer Kokosgeruch. Sie betrat den natürlichen kleinen Deich zwischen den harten Grasbüscheln. Von den großen schwarzen Rindern keine Spur, sie hörte auch keine Vögel. Vollkommen allein bewegte sie sich durch diese Landschaft, es war, als wäre sie gar nicht da. Sie ging über die Wiese in Richtung

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