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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Seite, hörte dem Bach zu. Stellte sich Wasser vor, das tagaus, tagein zum Meer fließt, Meerwasser, das verdunstet und Salz zurückläßt, Wolken, die zum Land treiben, Regen, der auf den Berg fällt, Rinnsale, die den Bach speisen. Kurz darauf wurde ihr klar, daß der Junge nicht auf der Toilette saß, sondern wahrscheinlich davor kniete. Retching . Sie richtete sich auf und schlug die Decke zurück. Es war kühl im Schlafzimmer. Sie fühlte sich nicht nur aufgebläht, sondern regelrecht krank. So krank, daß ihr das Aufstehen schwerfiel. Das Licht im Flur brannte, die Badezimmertür stand weit offen, beim Gehen hielt sie sich am Geländer über der Treppe fest. Bradwen hatte die Lampe im Bad nicht eingeschaltet und kniete nicht, er stand tief gebückt vor der Toilettenschüssel, die Hände auf dem Rand. Ein nackter Rücken wie der eines kranken Tieres, gekrümmt, aber kräftig, gewölbt und doch voller Spannkraft. Ein Turner. So hatte sie ihn noch nicht gesehen. Sie legte die rechte Hand auf seinen Rücken, rieb ohne Druck von der einen Schulter über den Nacken zur anderen. » There, there «, sagte sie. Unter ihrer Hand entstand eine Welle, sie legte die andere auf seinen Bauch, den sie sich noch gelblicher als sonst vorstellte, mit gespannten Muskeln, ihr kleiner Finger ruhte auf dem Bund seiner Unterhose. Nicht er, sondern sie schien dafür zu sorgen, daß herauskam, was herausmußte. Er erbrach sich und spuckte, sie konnte fühlen, wie sein Leib sich entspannte. So hatte sie seinen Körper noch nie gespürt. Indem sie ihn festhielt, blieb auch sie auf den Beinen.
    »Daß du ausgerechnet von dem Fleisch, das dein Vater gebracht hat, so krank werden mußt«, sagte sie.
    Er hustete und spuckte noch einmal. »Von dem Fleisch?«
    »Ich habe nichts davon gegessen.«
    »Woher willst du wissen, daß es nicht von deiner Hand kommt?«
    Sie blickte auf ihre Hand, die auf seiner Schulter lag. Nein, dachte sie, die andere hat er abgeleckt, die linke, die Hand auf seinem Bauch. Eine Hand voller Keime? Der Junge richtete sich auf, wischte sich den Mund, schüttelte sie mit seinen Bewegungen von sich ab. Er trat einen Schritt zur Seite, drehte den Wasserhahn auf und begann sich die Zähne zu putzen. Sie konnte sein Gesicht im Spiegel nicht richtig sehen, weil nur vom Flur her Licht ins Badezimmer fiel.
    » Only kidding «, sagte er, nachdem er den Mund ausgespült hatte.
    »Ja, natürlich«, antwortete sie.
    Sie standen sich gegenüber, fast eher nebeneinander, er griff nach ihrer Hand, hob sie an seinen Mund. » Only kidding «, wiederholte er und küßte die Hand. »Bis morgen.« Er ging über den Flur und zog die Tür des Arbeitszimmers hinter sich zu.
    Auch ihr eigenes Gesicht konnte sie im Spiegel nicht richtig sehen. Sie leckte ihren linken Handrücken, er schmeckte nach ihr selbst. Dann nahm sie eine Tablette ein. Später, sie lag wieder im Bett, klang der Bach zähflüssiger, und der Wasserkreislauf, den sie sich vorstellte, wurde unendlich viel weiter, blauer, weißer, nasser. Sie legte die Hände auf den Bauch. So war der Junge doch irgendwie bei ihr, sie glaubte sogar zu spüren, wie die von ihren Händen aufgefangene Spannung sich auf ihre Haut übertrug. Wie einfach wäre es gewesen, die Hand abwärts gleiten zu lassen, die andere auf seine Brust zu legen, ihn an sich zu ziehen: sein Hinterkopf auf ihrer Schulter, der Hals wehrlos, sein Geruch mit Säuerlichem vermischt. Geben und nehmen, dachte sie, in dem vorgestellten Kreislauf bei einer Wolke angekommen, die sich am Berg abregnet. Er hinter mir, ich hinter ihm. Er muß weg, aber nicht ganz. » There, there « und »ach«, das ist fast schon alles.
    Das zähe Fließen des Bachs trug sie fort, ihr Denken dehnte sich, jeden Moment würde sie einschlafen. Sie hatte gerade noch genug Zeit für den Gedanken, wie angenehm es war zu schlafen. So von allem gelöst. So frei von Dingen, über die der wache Mensch sich den Kopf zerbricht, vor denen er Angst hat, denen er mit Schrecken entgegensieht.
50
    »Es müssen die Anchovis gewesen sein«, sagte Bradwen. Er stützte sich auf den abgebrochenen Stiel einer rostigen Harke, mit der er gerade die umgegrabene Erde glättete. Etwas blasser als sonst wirkte er, vielleicht lag es an der neuen Mütze. Seine eigene, alte Mütze war dunkelgrün. Die neue hatte er auch beim Frühstück nicht abgesetzt. »Es war eine Dose, die ich im Küchenschrank gefunden hatte. Wer weiß, ob sie nicht dreißig Jahre da gestanden hat.«
    Sie

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