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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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das Auspacken erlaubte. Um die Zeit bis dahin totzuschlagen, hatte sie gleichgültig aus dem Fenster gestarrt. Sie schmatzte, irgend etwas am Geschmack der Zigarette war merkwürdig. Solange sie nichts sagte, konnte er nichts tun.
    »Morgen die Rosen einpflanzen?« fragte er.
    »Ja, können wir machen.«
    Er wirkte ein wenig verloren, als er sich an den Tisch setzte.
    »Vielleicht warten wir doch lieber noch etwas ab«, sagte sie.
    »Es muß an Sam gelegen haben«, sagte der Junge. Er hatte seine Finger locker verschränkt und drehte Däumchen.
    »Was?«
    »Füchse wittern Hunde.«
    Sie versuchte sich zu erinnern. Zehn Gänse, acht Gänse, sieben Gänse. Sie sah sich auf den Knien, im Dunkeln, Schiefersplitt bohrte sich in ihr Fleisch. Zu dieser Zeit waren es noch fünf oder vier gewesen, der Junge und der Hund waren aber noch nicht da. Oder doch? »Kanntest du den Bäcker und seine Frau schon vorher?«
    »Ja.«
    »Warum hast du das nicht erwähnt?«
    »Du hast nicht danach gefragt.«
    »Gibt es in Llanberis keinen Bäcker?«
    »Doch. Aber mein Vater hat früher schon gesagt, der würde nur an die Touristen denken und Brötchen backen, die hier niemand haben will. Fancy stuff .«
    »Du hast also keine Mutter mehr?«
    Der Junge senkte den Kopf. Blickte auf seine Daumen, bewegte die Nägel entlang der Falten auf den Gelenken hin und her.
    Ich wollte gar nichts über ihn wissen, dachte sie. Er sollte einfach nur da sein. Andererseits sollte er fort. Und jetzt weiß ich, daß er Halbwaise ist, und ein Sohn. Daß er seinen Vater verlassen und ihm den Hund weggenommen hat. Sie fühlte sich müde. Wollte über die Umstände nichts hören. »Gib uns mal was zu trinken«, sagte sie laut.
    Der Junge griff nach der Flasche, die auch für sie in Reichweite stand, und füllte die Gläser. Sie hob ihres, er hob seines. Sie schaute ihn an, er erwiderte den Blick. In der Küche roch es nach Fleisch. Sie zog fragend die Brauen hoch.
    »Auf das Lamm«, sagte Bradwen.
    »Nein«, sagte sie.
    »Auf die Rosen?«
    »Ja.« Sie trank.
    Der Geruch des Lammfleischs war weniger unangenehm, als sie gedacht hatte, mit anderthalb Gläsern Wein trank sie ihre leichte Übelkeit weg. Beim Essen sprachen sie kaum. Der Junge aß viel Fleisch, sie sah es in seinem Mund verschwinden und stellte sich ein Lamm vor, mit muskulösen Hinterbacken, ein junges Tier, das vor Kraft und Lebenslust strotzend durch das Hügelland sprang. Deshalb war Bradwen so drahtig. Drahtig und stark; fest wie das Fleisch, das er aß, wahrscheinlich von klein auf gegessen hatte. Sie sah ihn manchmal zum Weihnachtsbaum hinüberschauen, zu dem Päckchen, in dem er Socken vermutete. Diesmal drängte er sie nicht, mehr zu essen. Er aß und trank, einmal vergaß er, daß der Hund nicht mehr da war, und pfiff leise.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. Sie war sehr müde. »Der ist nicht mehr da.«
    Als er mit Essen fertig war, stand er auf und wollte den Tisch abräumen.
    »Laß«, sagte sie. »Das mache ich gleich. Schau erst mal unter den Weihnachtsbaum.«
    Er spielte nicht den Überraschten, griff direkt nach dem Päckchen und kehrte damit zum Tisch zurück. »Socken«, sagte er leise, es klang vorwurfsvoll, als dächte er an die Begegnung mit seinem Vater. Er legte das Päckchen auf den Tisch, löste den Tesafilm, faltete das Geschenkpapier auseinander. Nahm die Mütze in die Hände, blickte auf, sein Schielen war etwas stärker als sonst. Dann zog er sich die Mütze über das schwarze Haar.
    Sie trank einen Schluck Wein und beobachtete den Jungen, der sich von seinem Stuhl erhob und um den Tisch herumging. Er blieb neben ihr stehen, hockte sich hin, und schon bevor er anfing, wie Sam ihre freie Hand zu lecken, wußte sie, daß er das tun würde. Sie starrte erst auf seinen pastellblauen Kopf, auf seinen Nacken, den Mützenrand, unter dem sich Haare aufwärts kringelten, dann blickte sie zu den fast abgebrannten Kerzen auf der Fensterbank hinüber. In der Tonform lag noch ein größeres Stück Lammfleisch. Sie überlegte, ob sie englische Befehle für Hunde kannte. Sollte sie so etwas wie » Down! « sagen?
49
    In der Nacht wachte sie auf. Der Bach war ziemlich laut, das Fenster stand einen Spalt offen. Hatte das Rauschen sie geweckt? Hatte der Wind gedreht? Sie fühlte sich aufgebläht, als hätte sie einen halben Topf Kartoffeln und einen Teller Pastinaken gegessen. Aus dem Badezimmer kamen Geräusche. Bradwen saß auf der Toilette. Sie drehte sich mühsam auf die

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