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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Wasserreservoir, an dem stehenden Stein vorbei, auf den sie mit dem Erlenast schlug. Heute lag das Wasser nicht wie ein frisch poliertes Silbertablett vor ihr, sondern gekräuselt von einem kaum spürbaren Wind. Am anderen Ufer brauste es durch das Backsteinhäuschen. Sie schauderte bei dem Gedanken, daß sie vor gar nicht langer Zeit in diesem Wasser gewesen war, ihren Körper wegen der Lichtbrechung auch gebrochen gesehen hatte, Luftbläschen an ihrem Schamhaar, kleine Fische neben ihren Zehen. Sie ging zu dem Stein, auf den sie beim letzten Mal ihre Sachen gelegt hatte, setzte sich und zündete eine Zigarette an. Auf einer unsichtbaren Straße fuhr ein Auto. Mit ihrem Stock rührte sie im Wasser, wodurch kleine Wellen entstanden, die das Windgekräusel überlagerten. Sie beobachtete eine dieser Wellen, bis sie sich am gegenüberliegenden Ufer brach. Als sie an ihrer Zigarette ziehen wollte, konnte sie auf einmal den Mund nicht mehr schließen. Panik erfaßte sie, sie drückte mit der Hand ihr Kinn nach oben, aber immer noch war kein Inhalieren möglich. Das Gefühl war so ähnlich wie nach der Kieferoperation, bei der einer ihrer oberen Weisheitszähne entfernt worden war; dabei war eine Öffnung zur Nasenhöhle entstanden, weshalb der zum Rauchen notwendige Unterdruck nicht mehr zustande kam. Sie warf die Zigarette ins Wasser und atmete ein paarmal tief durch die Nase, was nur gelang, weil sie die Zunge an den Gaumen preßte. Die Zunge funktionierte also noch; etwas später schaffte sie es dann auch, den Mund zu schließen. Sie stand auf und ging mit weichen Knien, schwer auf ihren Stock gestützt, zu dem stehenden Stein. Dort ruhte sie sich einen Moment aus, legte die Hand auf die kalte Oberkante und schaute zu den Bäumen am Rand der sanft ansteigenden Wiese hinauf.
    Bevor sie sich auf den Weg dorthin machte, sah sie den mattroten Traktor mit einem verschmitzt lächelnden Bauern Evans vor sich, und Ketten, tiefe Spuren im Gras. Vielleicht hatte ja Frau Evans – noch nicht Witwe – beim Aufrichten des Steins geholfen, vielleicht hatte am Rand des künstlichen Teichs ein Korb mit Brötchen, zwei Birnen und Limonade gestanden. Vielleicht hatten sie gelacht, Nachlaufen gespielt, sich im Gras gewälzt.
    Nichts hatte sie wissen wollen. Hatte der Versuchung widerstanden, sich im Internet über mögliche Zielorte zu informieren. Sie war einfach nur fortgegangen. Wie eine alte Katze, die in Ruhe gelassen werden will. Selbst erlebt hatte sie das zwar nie, in dem schmalen Haus in De Pijp hatte nie eine Katze gewohnt. Aber ihr Onkel hatte Katzen. »Wenn sie weg sind, sind sie tot«, hatte er gesagt, und ihre Tante hatte genickt. Sie schaute sich noch einmal um, blickte aufs Wasser und dachte an ihren Onkel. Warum sagte in solchen Augenblicken nie jemand: »Tu’s doch! Na los!« Warum hatte sich das gesamte Küchenpersonal solche Mühe mit ihm gegeben, warum hatten sie ihn aus dem Teich geholt, ihm trockene Sachen angezogen, seine Schuhe auf den Herd gestellt. Damit er noch die Gelegenheit bekam, eine Schrankwand zu bauen? » Wall unit «, sagte sie und ging weiter.
    Als sie zum zweiten Mal den Steinkreis erreichte, war dort das Licht anders. Die Blüten des Stechginsters dunkler gelb, das harte Gras anders grün. Sie setzte sich auf den großen Stein und fand den Mut, sich eine Zigarette in den Mund zu stecken, nur daß ihr die Hände zitterten und sie das Feuerzeug nach dem Anzünden fallen ließ. Immer noch tiefe Stille. Dachsfrau ohne Dachs, dachte sie. Sie spürte ihre Beine schwer werden, den Rücken steif, die Arme schlapp. Er kam nicht, vielleicht hielt er Winterschlaf. War der Dachs nicht eine Art kleiner Bär? Langsam ging sie das letzte Stück bis zum Haus zurück. Sie stand lange auf dem Steg, schaute in das hügelab strömende Wasser des Bachs. Es gurgelte und brauste. Klares, eiskaltes Wasser.
52
    Bradwen hatte den Rosenbogen schon aufgestellt. Sie blieb eine Weile an der Bruchsteinmauer stehen, dort, wo er vor einigen Wochen hinübergesprungen war. Eine sehr beachtliche Leistung, an dieser Seite reichte ihr die Mauer bis zur Brust. Hörte sie ihn jetzt leise und zufrieden pfeifen? Noch beachtlicher war, daß Sam über die Mauer hatte springen können. Sie folgte dem Weg zum kissing gate in der Nähe des alten Stalls. Die Wanderung vom Steinkreis nach Hause hatte die Schwere in den Beinen und das Steifheitsgefühl im Rücken nicht ganz vertrieben. Vor einer Seitenwand des Stalls standen zwei Kletterrosen in

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