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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Vielleicht waren die Schmerzen im Hintergrund geblieben, weil sie fast ununterbrochen Tabletten schluckte. Der Junge hatte gerade etwas völlig Unverständliches gesagt, nur weil sie das Titelblatt der Ordnance Survey Map vor sich sah, wußte sie, wovon er sprach. Snowdon / Yr Wyddfa . Es interessierte sie nicht, was der Name bedeutete. Der Junge war im Grunde schon nicht mehr da, er konnte reden, was er wollte, viel mehr als »so«, »ja« oder »nein« würde er von ihr nicht hören. Vielleicht stürzte er ja noch ab. Sie holte tief Atem, das Scharfe in der Luft war verschwunden. Der Weg, seine Fersen, das Gras. Gehen. Weitergehen. Plötzlich ein Abgrund, als sie nach einer Rechtskurve ein nagelneues kissing gate hinter sich gelassen hatten. Eine gewaltige Leere auf der linken Seite, in der Tiefe ein paar kleine Seen. Vielleicht stürze ich ja ab, dachte sie. Die Mütze juckte, das Gebaumel der Bändel war etwas lästig. Sie gab sich große Mühe, diesen Tag als einen Tag wie jeden anderen zu empfinden, die hin und her schwingenden Bändel halfen dabei, wie der feste Weg. Die Sonne, die das Wasser der kleinen Seen in eine rotblaue Glut verwandelte. Rotblau. Winzig wirkten sie von hier oben. Nicht viel größer als – beispielsweise – ein Teich in einem Hotelgarten. Wahrscheinlich waren sie aber tiefer. Sie dachte an die Bananen in ihrem Rucksack, oder waren die in Bradwens? Auf jeden Fall hatte er das Wasser. Vielleicht war morgen auch noch ein Tag wie jeder andere, darüber war sie sich noch nicht schlüssig geworden.
    »Ich habe Durst«, sagte sie.
    Der Junge blieb stehen und nahm den Rucksack ab. Er holte eine Flasche Wasser heraus und reichte sie ihr. Sie trank, das Wasser lief ihr übers Kinn. Schnell gab sie die Flasche zurück. Auch er trank, aber erst, nachdem er den Daumen in den Flaschenhals gesteckt und die Flasche kurz zwischen diesem Daumen und einem Finger gedreht hatte. Nein, er hatte im Zug nicht so getan, als wäre nichts geschehen. Sie wischte sich mit der Hand das Kinn ab. »Weiter«, sagte sie.
    War das Ehepaar Evans auch manchmal auf diesen Berg gestiegen? Bestimmt. Oder war der Berg hier so etwas wie für sie das Stedelijk Museum in Amsterdam? So nah und selbstverständlich, daß man nie hinging. Sie stellte sich vor, Bradwen wäre Bauer Evans in jungen Jahren, an einem schönen Sonntag, und sie selbst die frischverheiratete Bäuerin Evans, die keinen Blick hat für den Abgrund, die Seen, die schwarzen Vögel, nur den Rücken ihres Mannes ansehen kann, sich Kinder wünscht. »He«, rief sie. »Hatte die Witwe Evans eigentlich Kinder?«
    »Nein«, sagte der Junge, der schon wieder zehn Meter vor ihr war. Er drehte sich kurz um und ging dann weiter. »Sonst würden die doch jetzt in deinem Haus wohnen. Oder wenigstens hätten sie es verkauft.«
    Sofort war sie müde und Witwe, der Altweibergeruch drang ihr wieder in die Nase. Der Abstand zwischen dem Jungen und ihr wurde immer größer. Ihre Gelenke knackten, ihre Hühneraugen machten ihr zu schaffen, der Wind zerrte eine dünne graue Locke aus ihrem Haarknoten. Ich wußte das doch schon, dachte sie. Rhys Jones hat es mir erzählt. Rhys Jones, sein Vater. Warum rennt der Junge immer so weit vor? Sie blickte halb links am Bergrücken vorbei zum Gipfel. Der immer noch weit entfernt zu sein schien. Sehr weiß war es dort, das Gebäude konnte auch ein gewaltiger Schneehaufen sein. Das schaffe ich unmöglich, dachte sie. Das eine Bein wollte plötzlich nicht mehr.
    Ihre Tante, die wie ein überdrehter Sportfan ihren Onkel anfeuert. Sie hat irgendeinen Gegenstand in der Hand. Ihr Onkel, der schneller und schneller tischlert, sägt, lackiert, zusammenbaut. Katzen, die sich unters Sofa flüchten. »Keine Schrankwand«, sagt sie. »Keine Schrankwand.« Ihre Tante lacht, feuert weiter lautstark den Onkel an. Auch ihre Mutter ist da. So ist es richtig! Einfach was Handfestes tun! Eine der Katzen, die älteste, eine Schildpattkatze, schleicht nach draußen.
    » Wall unit? «
    Sie öffnete die Augen. Der Junge stand direkt neben ihr.
    »Was?«
    »Du hast was von einer Schrankwand gesagt.«
    »Nein.« Sie richtete sich langsam auf. Grelles Sonnenlicht. Ihre Schulter streifte an etwas vorbei. Es waren Reste einer niedrigen Mauer. Sie schob sich mit den Armen weiter nach oben und lehnte sich an die scharfkantigen Steine, der Rucksack hing wie ein lästiger Buckel zwischen ihrem Rücken und dem Mauerrest. Sie waren doch schon ziemlich hoch gestiegen, zum

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