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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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herausgesaugt, hatte es nicht vertrieben. Sie spürte, wie wenig Energie noch in ihr steckte. Der Zug fuhr langsam, dicke Rauchwolken, weiße und schwarze, zogen an den Fenstern vorüber. Ein Zugbegleiter mit einer altertümlichen Schaffnerkasse vor dem dicken Bauch knipste ihre Karten, kurz danach schob ein betagter Mann sogar ein Wägelchen mit Getränken und Süßigkeiten durch den Gang. Ehrenamtliche. Der Junge nahm einen Becher Kaffee und ein Stück fruitcake . Sie bezahlte, weil sie sah, daß er keine Anstalten machte, nach seinem Portemonnaie zu greifen. Er war nicht anders als sonst, höchstens ein bißchen aufgeregt und voller Vorfreude auf den Berg. Sie saßen auf Polstersitzen, nicht auf Holzbänken, wie sie es sich vorgestellt hatte. In einem Pullmanwagen erster Klasse, von außen rotbraun. Die Fahrkarten hatte sie bezahlt. Der Junge hatte das Auto nach Caernarfon gefahren. Sie saßen sich gegenüber, in diesem Wagen konnte man nicht nebeneinandersitzen, sie fuhr vorwärts, Bradwen rückwärts. Neben ihrem Kopf schaukelte ein cremefarbener Vorhang. Grüne und braune Felder glitten vorbei, überall Mäuerchen aus Bruchsteinen, kahle Bäume mit grauen Stämmen, die Hügel auf der linken Seite wurden immer höher.
    »Kaum Schnee«, sagte der Junge, den Mund voll Früchtebrot, das Gesicht an die Scheibe gedrückt. »Vielleicht auf dem Gipfel. Wir müssen gleich aussteigen.«
    Sie antwortete nicht. Heute wollte sie möglichst wenig sprechen. Nach den jüngsten Erfahrungen wagte sie es kaum noch.
    Der Bahnhof von Rhyd Ddu bestand aus einem Bahnsteig mit hölzernem Wartehäuschen und rechteckigen, mit Steinen eingefaßten Beeten. In einiger Entfernung standen ein paar Häuser. Sie stieg aus, und es verschlug ihr fast den Atem, so frisch roch es hier. Frisch und scharf zugleich, sie konnte diesen Geruch nicht einordnen. Abgestorbene Farne? Steine und Felsen? Wasser? Reine Luft? Mit ihnen war noch eine Handvoll Leute ausgestiegen. Sie blickte einen sanften Hang hinauf. »Komm«, sagte der Junge. Sie nahm den Erlenast fest in die Hand und folgte ihm. Die kleinen Fensterchen des Wartehäuschens, die zusammen ein großes bildeten, spiegelten ihr die Sonne ins Gesicht. Ein Bahnsteigaufseher hielt einen Befehlsstab in die Höhe, er wirkte wie ein ehrgeiziger Filmstatist. Die Lok fuhr an und stieß schwarze Wolken aus.
    Vorbei an einem Schuppen, der an den alten Schweinestall erinnerte, führte ein breiter Weg aufwärts. Reifenspuren und in der Mitte ein Grasstreifen. Der Junge ging vor ihr her, ohne sich umzublicken, sie wollte ihn nicht jetzt schon bitten, möglichst langsam zu gehen. Sie konzentrierte sich auf ihren Stock und auf ihren Atem. Hin und wieder schaute sie nach vorn oder in die Umgebung. Schafweiden ohne Schafe, eine verfallene Bruchsteinmauer, Maschendrahtzäune, Wanderer. Als sie zurückblickte, stellte sie fest, daß der Junge und sie das Schlußlicht bildeten. Der Traktorweg wand sich langsam nach oben, sie atmete gleichmäßig ein und aus, paßte das Schwingen des Erlenastes ihrem Atemrhythmus an. Warum schaute sich der Junge nicht ein einziges Mal nach ihr um? Sehen, dachte sie. Riechen, Fühlen. Die Sonne scheint.
    »Warte!« rief sie.
    Der Junge blieb stehen, bis sie ihn erreicht hatte, und setzte sich dann sofort wieder in Bewegung. Es ging immer noch ziemlich leicht, der Anstieg war nicht allzu steil. Sehr weit entfernt und ein gutes Stück höher, wahrscheinlich auf dem Gipfel, stand ein Gebäude. Der Gipfel war völlig weiß.
    »Siehst du den Buckel weiter rechts?« fragte der Junge.
    Sie blickte an seinem ausgestreckten Arm entlang. »Ja.«
    »Da gehen wir jetzt hin. Siehst du auch den Bergrücken links davon, der von hier aus niedriger zu sein scheint?«
    »Ja.«
    »Das ist der Grat, auf dem wir zum Gipfel gehen.«
    »Wie weit ist das noch?«
    »Nicht so weit, wie es scheint.«
    »So.«
    »Yr Wyddfa heißt der Berg. Begräbnisplatz.«
    Sie schaute auf ihre Füße. Auf den Weg, die kleinen Steine, die flachen, kurzen Grashalme. Ihr war nicht wirklich schwindelig, aber die Umgebung schien ins Schwimmen zu kommen; ihre Schuhe, das Ende des Stocks bildeten Fixpunkte. Heute, nach der Einnahme von zwei Tabletten, waren die Schmerzen weit weg. Eigentlich hatte sie erstaunlich wenig Schmerzen gehabt, es war mehr ein unbestimmtes, aber hartnäckiges Gefühl des Verfalls, des Zusammenschrumpfens, dazu die Empfindung, mit ihren Sprechwerkzeugen Wörter zu produzieren, die nicht aus ihrem Kopf stammten.

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