Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
Vom Netzwerk:
ersten Mal sah sie die Tiefe, einen Spielzeugbahnhof, einen großen See neben der Bahnstrecke, andere Berge, Hügel. Leichter Dunst, der das Sonnenlicht filterte. Das Ganze wie eine Abbildung auf der Schachtel eines homöopathischen Medikaments. Sie keuchte. Der Junge ging neben ihr in die Hocke und zog sie an den Schultern etwas nach vorn. Dann streifte er ihr mühsam den Rucksack ab und holte die Bananen heraus. Er gab ihr eine und aß selbst zwei. Die Schalen stopfte er in seinen eigenen Rucksack. Schließlich stellte er ihr eine Wasserflasche hin.
    »Ich geh weiter«, sagte er. »Bin bald wieder bei dir.«
    » Cat «, sagte sie.
    »Was?«
    » Cat .« Ich kann, dachte sie, das will ich sagen. Nicht cat , sondern I can , und dann noch etwas. Ich kann auch auf den Gipfel, wenn wir nicht so rennen. Etwas in der Art.
    »Bleib einfach hier sitzen«, sagte er. »Ich brauche wirklich nicht lange.« Er drehte sich um und ging.
    Sie schaute ihm nach. Er kletterte wie ein Bergschaf, erreichte die Grenze zwischen Gras und Schnee. Sie wandte sich wieder dem Panorama zu und schälte die Banane. Schlang sie hinunter, warf die Schale über die Schulter. » I’m fine «, sagte sie zu einem besorgten Wandererpaar. » Just enjoying the view. « Diese Ergänzung hätte sie sich besser gespart, Mann und Frau drehten sich um und begannen die Aussicht zu kommentieren. Sie störten, lästige Mücken, Schmeißfliegen.
    » What a lovely knitted cap you have «, sagte die Frau, dann gingen sie endlich weiter. Sie holte die Tabletten aus dem Vorderfach des Rucksacks und schluckte eine davon mit viel eiskaltem Wasser. Atmete tief ein und aus, rieb sich die Beine. Griff noch einmal in das Fach, nach den Zigaretten und der Streichholzschachtel. Einen Moment saß sie einfach nur da, die Hände mit den Schachteln im Schoß. Dann zündete sie ein Streichholz an, das ruhig brannte, es gab kaum Wind. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. Teer und Nikotin, beinah flüssig, stauten sich in ihrer Kehle. Sie konnte gerade noch die Zigarette wegschleudern, bevor sie zur Seite gebeugt die Banane auswürgte. Sie richtete sich wieder auf, atmete noch einmal tief, beobachtete die dünne Rauchwolke. Trank Wasser, es schmeckte süßlich, den letzten Schluck spuckte sie aus. Danach stand sie auf und begann mit dem Abstieg. Sie schaute nicht in die Tiefe, nicht nach dem Spielzeugbahnhof. Sie schaute mit gesenktem Kopf vor sich hin. Auf den Weg, ihre Schuhe, den Erlenast; aus den Augenwinkeln sah sie die violetten Bändel Walzer tanzen.
    Später, wieviel später wußte sie nicht, kam der Junge auf den Bahnsteig. Sie saß mit dem Rücken am Wartehäuschen, die Tür war abgeschlossen. In einiger Entfernung stand ein Wandererpaar, die beiden hatten mehrmals zu ihr hingeschaut. Sehr lange hatte sie ein Gestell neben den Schienen angestarrt, einen flachen roten Tank auf sehr hohen schwarzen Beinen und mit einem Wasserkran. Sie richtete sich auf. Jetzt stand der Junge vor ihr – er hatte rote Wangen und strömte den metallischen Geruch dünner Bergluft aus, es fehlte nur noch, daß er wie ein Hund die Zunge heraushängen ließ –, und sie fragte: »Was siehst du?«
    Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. »Eine Frau mit einer sehr schönen violetten Strickmütze. Sie ist müde. Sie hat es nicht bis zum Gipfel geschafft, aber das ist auch kein Beinbruch. Es ist Weihnachten, sie sollte jetzt nach Hause. Es ist Zeit fürs Kochen und Trinken.«
58
    Sie bogen auf den Zufahrtsweg ein, aber dann hielt Bradwen an. Er zeigte auf den Briefkasten. »Hast du da schon mal reingeschaut?« fragte er.
    »Nein.«
    »Soll ich?«
    »Nein.«
    Er fuhr weiter.
    Sie sah Schafe auf dem Stück Land am Weg. »Stop«, sagte sie.
    Der Junge bremste.
    »Ich möchte doch …«
    »Soll ich zurückfahren?«
    »Nein, ich laufe.« Sie stemmte die Beifahrertür auf, es ging sehr schwer. Ein paar Schafe schauten zu ihr hin, die meisten fraßen weiter das für sie neue Gras. Sie öffnete den Briefkasten. Fast leer. War Werbepost hier aus der Mode gekommen? Oder dachte der Briefträger, die Witwe Evans könne ja doch nichts mehr lesen? Als sie nach dem Papier griff, rutschte zwischen den Prospekten ein Briefumschlag heraus und landete mit einem Klopfen auf dem Boden des Kastens. Sie legte die Prospekte zurück und nahm den Umschlag. Ihr Name, der Name des Hauses, Gwynned stand auch darauf. Ob das die Grafschaft war? Der Poststempel war deutlich zu lesen. Als sie den Umschlag aufriß, kam eine Karte

Weitere Kostenlose Bücher