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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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oder Spitznamen hieß. Auf die Fragen der Neugierigen erklärte er, dass er versuche, auf diese Weise den Schwund an Arbeitskräften zu verstehen, die noch im Jahr zuvor zahlreicher gewesen waren und seither abgenommen hatten, ungeachtet der Kinder, die zur Welt gekommen waren und täglich wuchsen.
    Alle im Neuen Gelobten Land waren mit ihrem Tun beschäftigt, und nur der Engel allein mit seinen Gedanken. Er dachte über vieles nach, und wenn er es mit den Gedanken nicht mehr aushielt, ging er mal in den Kuhstall, um seine Hilfe anzubieten, dann wieder zu den Bauarbeitern. Im Stall gab man ihm gewöhnlich frische, kuhwarme Milch statt Arbeit, während die Bauarbeiter, im Unterschied zu den Melkerinnen, für den Engel eine Beschäftigung fanden – er sollte alle Arten Entfernungen auf der Hügelkuppe mit Schritten abmessen. So schritt der Engel mit gemessenem Schritt einmal von dem einen in die Erde gesteckten Pfahl zu dem anderen, dann wieder umgekehrt. Und danach, wenn er drei Mal die Anzahl seiner Schritte überprüft hatte, ging er zu dem Brigadier oder, wenn dieser nicht da war, irgend­einem Bauarbeiter und sagte ihm, wie viele von diesen Schritten es geworden waren.
    So verging die Lebenszeit im Neuen Gelobten Land. Die Tage verstrichen, ungeachtet ihrer Länge, schnell, und jedes Mal, wenn ein Tag verklungen war, zog ein tiefblauer Abend über den Hügel und seine Umgebung, entzündete Sterne und regte alle zum Schlafen oder zu ruhigen Gesprächen an.
    Wieder hatte das Sonnenlicht einen Tag ausgeatmet, zur Erde gelegt und mit einer dunkelblauen Decke voll leuchtender Sterne zugedeckt.
    Als der Engel sah, wie um ihn herum das Treiben erstarb, wollte auch er zu seiner Schlafbank gehen. Doch da kehrten die Gedanken wieder, und es waren die unruhigsten von allen – die über die Lehrerin Katja. Und der Engel verließ den von Menschen bewohnten Kuhstall, in dem er lebte. Er ging hinaus, wanderte über den Hügel und blieb an seinem Abhang stehen: er blickte hinunter, wo an dem geheimnisvoll schimmernden Flüsschen trüb das Fenster im Haus des Ofensetzers Sachar leuchtete.
    Der Engel dachte an das Gespräch, das er dort, unter diesem Fenster mitangehört hatte. Er betrachtete die Sterne, freute sich an ihnen und stieg den Pfad hinab, der zu dem Haus des Räuchermeisters führte.
    Er trat ans Fenster, blieb stehen und horchte. Und vernahm unterdrückte Stimmen. Es kümmerte den Engel nicht, worüber dort gesprochen wurde, er versuchte die Worte nicht zu verstehen, die die beiden Redenden wechselten. Er wollte einfach in das Haus gehen, sich an den Tisch setzen und warten, bis sie ihn nach seinen Gedanken fragten.
    Er klopfte an die Tür.
    Das Gespräch stockte und erstarb. Dafür ertönten schwe-re Schritte. Die eiserne Klinke knackte, und die Tür ging auf.
    „Engel?“, sagte Sachar ein wenig erstaunt, während er den Besucher genau ansah. „Willst du etwas essen?“
    „Nein. Ich komme nur so.“
    „Na, dann komm rein.“
    So erfüllte sich der Wunsch des Engels. Er saß an eben jenem Tisch, und bei ihm saßen der einhändige Pjotr und Sachar. Sie saßen da und schwiegen, während sie den Engel ansahen.
    Endlich seufzte Sachar tief und bemerkte: „Gestern ist Demid Polubotkin gekommen. Sagt: Ich singe dir was, und du gibst mir eine Keule! Da sage ich ihm: Wie kann denn das angehen, ein Lied für eine Keule?“
    „Ja, ja …“, nickte Pjotr zustimmend.
    Der Engel sah bestürzt den Räuchermeister an.
    Als Sachar diesen Blick bemerkte, wandte er sich dem Engel zu und erklärte: „Verstehst du, der Bucklige hat ihm eine Norm festgelegt, damit er Nutzen bringt. So hat er es direkt in sein Heft eingetragen: Tagesnorm – den Kindern Musik beibringen und fünf Lieder singen. Da hat er sich nun irgendwie gedacht, wenn er mehr Lieder singt, dann bekommt er auch mehr als die anderen …“
    „Ist für dich auch eine Norm eingetragen?“, fragte Pjotr nachdenklich Sachar.
    „Ja, ich habe es selbst gesehen. Da steht es so: Tagesnorm – Fleisch räuchern …“
    „Wie viel Fleisch du räuchern sollst ist nicht eingetragen?“, bohrte der einhändige Pjotr weiter.
    „Nein, nein, wenn da steht Tagesnorm, dann heißt das, den ganzen Tag räuchern …“
    Den Engel interessierte dieses Gespräch nicht allzusehr, und er heftete seinen Blick auf die Öllampe, die an einem Haken von der Decke hing und trübe, aber beharrlich leuchtete.
    Ein Falter flatterte um die Lampe herum.
    „Siehst du“, sagte Sachar und

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