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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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‚Ich werde nach dem Krieg zum Arzt gehen müssen …‘
    Er sank wieder auf sein Bett und versuchte einzuschlafen.
    Zu dieser Zeit löste sich vor dem Fenster ein Stern vom Himmel, und er flog lange herunter zur Erde, bis er irgendwo weit entfernt von diesem Städtchen hinter dem Ural auf der Erde aufschlug. Er zersprang, wobei er den sich in der Nähe erstreckenden Wald wachrüttelte und das Dorf aufweckte, das hinter dem Wald seinen Platz gefunden hatte. Im Dorf bellten die Hunde los. Jemand trat mit einer brennenden Kerze in der Hand vor die Tür. Doch da war es schon wieder still geworden, und die Nacht setzte sich fort.

    Am Morgen fiel ein Sonnenstrahl als leuchtend gelber Fleck auf den Holzboden ihres Zimmers. Ein neuer Tag begann.
    Nach dem Frühstück in der Kantine des Wohnheims machten Mark, der Papagei und Parlachow sich auf zur Fabrik N, die außerhalb der Stadt lag.
    Die Vögel sangen, und der Atem des Windes war warm.
    Krähen und Tauben kreisten über den Dächern der grauen Häuser.
    Kusma in seinem Käfig, der über der Erde baumelte, drehte froh den Kopf nach allen Seiten, als er rings um sich her nicht den Mantelstoff des Futterals, sondern wahres, lebendiges Leben sah.
    Der Fabrikzaun kam in Sicht, und Mark zog fügsam die Augenbinde über und hakte sich bei Parlachow ein.
    Ein Tor quietschte. Mark hörte, wie Parlachow bei einem Wächter erfragte, wie sie zum Kulturraum kämen.
    Es folgten die üblichen blindlings genommenen Biegungen und Stufen. Und dann war da schon die unsichtbare Bühne. Kusmas Krallen gruben sich ihm in die rechte Schulter, während Parlachow flüsterte:
    „Du musst noch einen Augenblick warten!“
    Und Mark wartete.
    „Los!“, kommandierte abermals flüsternd sein Hüter.
    „Trag vor, Kusma!“, gab Mark, den Kopf nach rechts ge­wandt, das Kommando weiter.

    „Auf frischgepflügtem Felde fiel –“,

    deklamierte Kusma,

    „ein ernster Bursche aus der Hauptstadt.
    Langsam glitt seine Mütze still
    vom kugeldurchbohrten Kopf ab.
    Kein Blick ging mehr zum leeren Himmel,
    und als er sein nahes Ende spürt …“

    Plötzlich stürzte jemand in den für Mark unsichtbaren Kulturraum herein. Türenschlagen und ein durchdringender Schrei erklang, unklar, ob von einem Mann oder einer Frau: „Genossen! Sieg! Sieg, Genossen!“
    Das unsichtbare Publikum sprang auf, wobei es die Stühle umwarf. Ein Tumult entstand.
    Wie betäubt hob Mark, ohne auf den weiter deklamierenden Papagei zu achten, die Arme und hielt sie sich vors Gesicht, weil er nicht wusste, was er mit ihnen tun sollte. In seinem Innern tobte ein wild gewordenes, glückliches Tier, und er wusste nicht, wie er es herauslassen sollte. Da rissen die Hände von selbst die Binde von den Augen, und er kniff die Augen zu, von den plötzlich auftauchenden roten Wänden des Kulturraums geblendet. Er schlug die Hände vor die Augen, dann nahm er sie ganz langsam fort. In dem Raum war es menschenleer. Nur Holzstühle und -hocker standen und lagen herum, die die Zuhörer zurückgelassen hatten. An den Wänden hingen Plakate voll weinender Mütter und streng dreinblickender Verteidiger der Heimat.
    Mark stieg hinkend von der Bühne und las diese Plakat-Aufrufe, er las jedes Wort, das über und unter ihnen geschrieben stand. Wie lange hat er nichts mehr gelesen. Es wunderte ihn geradezu, dass er nach diesen Jahren des Krieges, der soeben für ihn zu Ende gegangen war, wieder normal leben würde, ohne Binde vor den Augen, ja dass er Bücher und Zeitungen lesen würde.
    Hier, da war auch noch ein Aufruf an die Kämpfer des Hinterlandes …
    Plötzlich spürte Mark jemandes Blick in seinem Rücken und drehte sich um.
    Parlachow sah ihn vom Türrahmen her vorwurfsvoll an.
    Jemand huschte hinter dem Hüter vorbei, und allmählich verstummten die raschen Schritte eines Menschen, der durch den Korridor lief. Danach tutete die Fabriksirene.
    „Sieg!“, sagte Mark leise, dabei sah er Parlachow lächelnd an.
    Parlachow schwieg.
    Dann seufzte er tief und fragte:
    „Wer hat Ihnen erlaubt die Binde abzunehmen?“
    Mark sah sich um und versuchte diese Binde zu finden, doch sie war nirgends zu sehen.
    „Sie verstehen doch, dass Sie in einem Verteidigungsbetrieb sind?“
    „Aber jetzt ist doch der Sieg …“, sagte Mark hilflos.
    Langsam gingen sie zurück. Mark war sich seiner Schuld bewusst, und doch machte ihn das Wetter gleichzeitig unendlich froh; er blinzelte in die Sonne, während er im Gehen zu Parlachow hinüber sah.

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