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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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wurden selbständiger.
    Daran, dass das Leben sich besserte, zweifelte auch Dobrynin nicht mehr. Vor allem, nachdem Waplachow ihn dazu überredet hatte, das neue Feinkostgeschäft einmal zu besuchen. Der Überfluss, den er dort erblickte, bewegte Dobrynin tief. Und als der Volkskontrolleur inmitten dieser Unzahl von essbaren Waren eine Kekspackung „Auf dem Posten“ erblickte, hatte er plötzlich einen Kloß im Hals. Erinnerungen an die, wie es ihm schien, gar nicht so ferne, doch so schwere und heroische Vergangenheit überschwemmten ihn. Sollten jetzt tatsächlich alle Schwierigkeiten und alle Mühsal vorbei sein?‘, dachte Dobrynin. ‚Wird es tatsächlich keine Entbehrungen mehr geben?‘ Das dachte er mit einem Gefühl der Wehmut, denn vor seinen Augen wurde das unerhörte Heldentum der vergangenen Jahre gerade Teil der Geschichte, und der Jugend, die nun heranwuchs, blieben nach dem Ende des Krieges praktisch keine Schwierigkeiten mehr, mit deren Überwindung sie die Natur besiegen und das Unmögliche erreichen konnten. Das Leben wurde zusehends ruhiger und gleichförmiger. Wieder wurde der Arbeitstag um eine Stunde verkürzt, und es entstanden neue Probleme: Was sollten sie mit den warmen Sommerabenden tun? Der Urku-Jemze fand schnell Antworten auf derlei Fragen, Dobrynin jedoch fiel es schwer, an Erholung auch nur zu denken, und nur die Erinnerungen an den Norden beruhigten ihn stets. Die Gedanken an die Vergangenheit wurden zu seinem Schlafmittel, und manchmal kehrte diese Vergangenheit in den Nächten in Form langer Träume voller Schwierigkeiten wieder. Nach derlei Träumen erwachte Dobrynin erstaunlich munter und lebensfroh, und an solchen Tagen arbeitete er, ohne sich und den Urku-Jemzen zu schonen. Anstelle der üblichen hundert bis hundertfünfzig Rotarmisten und anderen Figuren bliesen sie da manchmal bis zu dreihundert auf und schliefen, mit einem scharfen Gummigeschmack im Munde, früh ein.
    Ende August wurde in der Fabrik eine Hochzeit gefeiert. Die Hochzeit war von interner Art – Braut und Bräutigam arbeiteten gemeinsam im Luftballonwerk.
    Man hatte für dieses Ereignis die Fabrikskantine derart geschmückt, dass auswärtigen Gästen schlicht der Atem stockte. Von der Decke hingen Girlanden aus Luftballons, an den Wänden entlang reihten sich aufgeblasene und schön bunte Rotarmisten, Bauern, Traktoren und Kühe, Piloten und Panzerfahrer. Man hätte glauben können, dass hier keine Hochzeit, sondern irgendein bedeutendes Jubiläum der Fabrik gefeiert würde.
    Als die Gäste alle auf ihren Plätzen saßen, ergriff Genosse Fomitschew das Wort. Er erzählte viel Gutes über die Brautleute und schenkte ihnen, im Namen der Fabrik, einen Schallplattenspieler. Das Gewerkschaftskomitee überreichte den jungen Leuten einen Kinderwagen, und sofort ertönte über den Tischen das traditionelle vielfache „Gorko!“ als Aufforderung an das Brautpaar, sich zu küssen.
    An dem Tag, der auf die Hochzeit folgte, ging Waplachow nicht zum Mittagessen, sondern in den nächsten Bürowarenladen und kaufte dort Tinte und Papier.
    Dobrynin hatte bemerkt, dass der Urku-Jemze seit dem Morgen eigenartiger, gehobener Stimmung war, aber er stellte ihm keinerlei Fragen. Umsomehr, als der Mund unaufhörlich mit der Arbeit beschäftigt war und ihnen in den Verschnaufpausen mehr nach ein paar tiefen Atemzügen als nach einem Gespräch war.
    Am Abend jedoch klärte sich alles.
    Statt das Abendessen zu kochen, setzte Waplachow sich sogleich nach ihrer Rückkehr aus der Fabrik an den Tisch und begann etwas zu schreiben.
    „Was schreibst du da?“, fragte Dobrynin.
    „Einen Brief.“
    „An wen denn?“
    Hier blickte Waplachow seinen alten Gefährten aufmerksam an, und Dobrynin sah viel Wärme und Güte in seinem Blick.
    „An Tanja Seliwanowa“, sagte der Urku-Jemze sanft.
    Dobrynin wurde nachdenklich. Aus irgendeinem Grund hatte er vor sehr langer Zeit entschieden, dass Briefeschreiben eine Frauenbeschäftigung sei und Männer Funksprüche schicken sollten. Als er jetzt diesen Mann vor sich sah, der einen Brief schrieb, erkannte er, dass er in seinen Gedanken nicht recht gehabt hatte. Der Brief fiel ihm ein, den er zusammen mit dem Paket vom Genossen Woltschanow erhalten hatte. Er versuchte sich zu erinnern, ob Genosse Lenin Briefe geschrieben hatte. In den unlängst gelesenen Geschichten hatte nichts über Briefe gestanden.
    „Worüber schreibst du denn?“, fragte Dobrynin, nachdem er sich aus seinen Gedanken

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