Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
losgerissen hatte.
    Waplachow schrieb ein Wort zu Ende, steckte den Füllfederhalter in das Tintenfässchen und sagte: „Über unsere Arbeit schreibe ich, über die Fabrik …“
    „Auch über mich?“
    „Ja, natürlich. Und über die gestrige Hochzeit möchte ich schreiben.“ Bei diesen Worten klang die Stimme des Urku-Jemzen ein wenig verträumt und hoffnungsvoll.
    Dobrynin nickte.
    „Sie gefällt dir?“, fragte er geradeheraus.
    „Ja“, sagte Waplachow.
    „Ein gutes Mädchen“, stimmte Dobrynin zu. „Eine Patriotin. Vielleicht heiratest du sie?“
    Der Urku-Jemze war nun nicht verlegen, aber er schwieg. Er wusste nicht, wie er auf diese Worte antworten sollte. Natürlich hatte ihm die gestrige Hochzeit gefallen, und er beneidete den Bräutigam und hatte sich an seine Stelle versetzt. Aber an der Stelle der Braut hatte er nur die rothaarige Tanja Seliwanowa im fliederfarbenen Kleiderrock gesehen, der sich eng an ihre kräftige Figur schmiegte.
    „Hast du noch einen Füllfederhalter?“, fragte Dobrynin plötzlich.
    „Ja.“
    „Auch Papier?“
    „Auch Papier.“
    „Gib mir welches“, bat Dobrynin knapp. „Ich werde wohl auch einen Brief schreiben.“
    „An wen?“, fragte der Urku-Jemze, kaum merklich lächelnd.
    „Ich … möchte dem Genossen Twerin schreiben“, gestand Dobrynin.
    An diesem Abend aßen sie schließlich überhaupt nicht. Bis es dunkel wurde, saßen sie einander am Tisch gegenüber und kratzten mit den Füllfedern, immer wieder innehaltend und jedes Wort, jeden Satz überdenkend.
    Diese Beschäftigung fesselte Dobrynin derart, dass es ihm irgendwann so schien, als redete er mit dem Genossen Twerin, als hörte er eine Antwort auf jede hingeschriebene Frage, ausgesprochen mit der so lieben, vertrauten, leicht heiseren und erschöpften Stimme.
    So viele Fragezeichen setzte Dobrynin in diesem Brief, dass sie für zwei Personalbögen in der Kaderabteilung ausgereicht hätten. Er fragte den Genossen Twerin nach seiner Gesundheit, nach seinem Leben im Kreml, nach dem Genossen Woltschanow. Aber das Kostbarste, das Wichtigste schrieb er ans Ende des Briefes, nach langem Schwanken und Zweifeln. Er bat den Genossen Twerin, falls das möglich wäre, ihn zur Arbeit in ein schwierigeres und verantwortungsvolleres Gebiet zu schicken. Und erst am alleräußersten Ende, vor dem schriftlichen Händedruck zum Abschied, erkundigte Dobrynin sich nach seiner Familie und seinen Kindern. Das tat er aber nur kurz, damit Genosse Twerin nicht denken sollte, das Private sei Dobrynin wichtiger als das Staatliche.
    Während Dobrynin an seinem Brief schrieb, klebte der Urku-Jemze aus Papier zwei Kuverts. Eines von ihnen versah er mit einer Aufschrift, das zweite schob er Dobrynin hin.
    In dieser Nacht schlief Dobrynin schlecht, denn er dachte fortwährend an seinen Brief und daran, was Twerin wohl denken mochte, wenn er ihn erhalten und gelesen hatte.
    Am Morgen aber, auf dem Weg zur Fabrik, gingen Waplachow und Dobrynin zur Poststelle und gaben ihre Briefe in dem dafür zuständigen Fenster ab, nachdem sie für die Übersendung bezahlt hatten.
    An diesem Tag arbeiteten sie nicht allzu angestrengt, und vielleicht wurde der Urku-Jemze deshalb auf ein verdächtiges Detail aufmerksam: bei vielen Rotarmisten begann beim Aufblasen die Luft aus zwei Löchlein zu entweichen, die sich direkt in der Mitte der blauen aufgemalten Augen befanden.
    „Es scheint, dass jemand ihnen die Augen aussticht“, sagte Waplachow.
    Nachdem Dobrynin es sich angesehen hatte, schloss er sich Waplachows Verdacht an.
    „Wir wollen den Anteil von derartigem Ausschuss überprüfen“, schlug er vor. „Und nach dem Mittagessen erstatten wir Fomitschew Meldung. Es muss ja etwas getan werden.“
    Waplachow stimmte ihm zu. Wenn Löchlein sich in eindeutig zufälligen Körperteilen der Aufblasfiguren fanden, klebten die Kontrolleure sie zu. Wenn aber der Fehler in den Augen der Erzeugnisse auftrat, dann wurden diese Erzeugnisse beiseite gelegt.
    Bis zum Mittagessen waren siebzehn Rotarmisten mit Löchlein in den Augen entdeckt.
    „Sie wurden ausgestochen!“, schloss Dobrynin endgültig. „Hier betätigt sich ein Schädling.“
    Erregt gingen die Kontrolleure mit ihrem Ausschuss als Erstes zu Fomitschew und erzählten ihm von ihren Schlussfolgerungen.
    Auch der Direktor geriet ernstlich in Aufregung. Er bat sie darum, ihm bis zum Abend Zeit zum Nachdenken zu lassen, doch am Abend, sagte er, werde es unumgänglich sein, sich zusammenzusetzen

Weitere Kostenlose Bücher