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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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es zu.
    „Vielleicht wird ihnen das helfen?“, sagte er.
    „Und das Buch?“, fragte Waplachow.
    „Über Lenin, der dritte Band.“ Achtsam und liebevoll nahm Dobrynin das Buch zur Hand.
    Er schlug den Anfang auf. Dann hob er den Blick zu Waplachow.
    „Soll ich dir vorlesen?“, fragte er.
    „Machen wir Tee, und dann liest du vor!“, schlug der Urku-Jemze vor.
    Dobrynin war einverstanden. Sie setzten den Teekessel auf den Primuskocher.
    Vor dem Fenster rauschte der Regen.
    „Eine lustige Begebenheit in Rasliw“, verlas Dobrynin den Titel der Erzählung und sah Dmitrij an.
    Dmitrij hörte aufmerksam zu, und da machte Dobrynin sich daran und las die ganze Geschichte:

    Es war einmal im Herbst. Treue Freunde trugen Lenin zu, dass Agenten der geheimen Staatspolizei um das Haus schlichen, in dem er ein Zimmer gemietet hatte. Die Zeit der Verhaftungen rückte näher, und Lenin verstand, dass er Petrograd verlassen musste. Er verkleidete sich als kluger Bauer, zog die Perücke auf, die Klara Zetkin ihm geschenkt hatte, legte eine schöne Lampe, eine Flasche Petroleum, eine Waffe für den Fall der Jagd und revolutionäre Broschüren in den Koffer. Dann nahm er den Koffer und trat hinaus auf die Straße. Die Agenten der geheimen Staatspolizei die um das Haus schlichen, nahmen überhaupt keine Notiz von dem Bauern mit dem Koffer. Als Lenin einen halben Häuserblock weit fort gegangen war, mietete er einen Kutscher, und der Kutscher brachte ihn hinaus hinters Wyborger Stadttor. Von dort an ging Lenin zu Fuß und mied Dörfer und Gehöfte. Er ging einige Tage über Felder, durch Wälder und auf Pfaden und kam endlich nach Rasliw. Dort baute er sich selbst eine Laubhütte aus Tannenzweigen und begann dort zu wohnen, vor der geheimen Staatspolizei verborgen. Am Tag versteckte er sich in der Laubhütte, und an den Abenden zündete er seine Petroleumlampe an, trat mit ihr auf die Lichtung hinaus und las dort revolutionäre Broschüren.
    Eines Tages, als er Kautski las, hörte er ein Rascheln im Gebüsch. Schnell eilte er in die Laubhütte, um seine Waffe zu holen, dann rief er in Richtung des Raschelns: „Komm heraus, wer da ist, sonst schieße ich!“ Er dachte erst, es sei ein Fuchs oder Hase, doch aus dem Gebüsch kamen dunkle Waldleute heraus auf die Lichtung. Sie waren zu dritt: zwei ältere und ein ganz junger und bartloser. Gehorsam traten sie zur Lampe. „Bloß nicht schießen!“, bat einer der älteren.
    „Gut“, sagte Lenin. „Ich schieße nicht. Aber sagt, weshalb ihr gekommen seid?“ „Wir waren ja schon drei Mal da“, sagte der andere Ältere. „Wir sehen: da brennt nachts Licht im Wald und irgendein Mensch liest was. Na, denken wir, wenn er nachts liest, und nicht am Tag im Sonnenlicht, heißt das, es gibt etwas Verbotenes in seinem Buch … Also wollten wir fragen, was dort, in dem Buch, geschrieben steht. Irgendeine Wahrheit vielleicht?“ Da lächelte Lenin und dachte bei sich: „Sind diese Männer echt oder verkleidete Agenten?“ Zu der Zeit gab es in Russland viele Agenten, und sie kleideten sich, wie sie wollten: als Arbeiter, als Bauern, als Eisenbahner. „Na“, dachte Lenin, „ich prüfe sie!“ „In diesen Büchern steht, wie man Wasser anzündet“, sagte Lenin den Männern. „Wozu will man das anzünden?“, fragte der junge bartlose Mann und erhielt sofort von dem älteren, der links stand, einen Schlag an den Hinterkopf. Der Mann, der rechts stand, fragte hingegen: „Und wie zündet man es an?“ Wieder lächelte Lenin. Gerade diese Frage hatte er hören wollen. Er ging in seine Laubhütte und holte die Flasche Petroleum. „Hier“, sagte er. „Man nimmt eine Flasche Wasser, gießt etwas auf die Erde, nimmt Streichhölzer …“ Hier zog Lenin Streichhölzer aus der Hosentasche und zündete das verschüttete Petroleum an. Das Petroleum schoss mit blauer Flamme hoch. „So“, sagte Lenin. „Wenn ihr wollt, kann ich den See anzünden!“
    Als die Männer die Flamme sahen, hatten sie sich zu Tode erschreckt. Sie bekreuzigten sich, machten auf dem Absatz kehrt und flüsterten: „Das ist der Teufel, der Teufel!“ Und so rannten sie in den Wald davon, nur die Fersen blitzten auf.
    „Echte Bauern“, erkannte Lenin und begann zu lachen. Und lange lachte er noch über die Männer und über sein Misstrauen. Er lachte und konnte sich gar nicht vorstellen, dass nur noch ein paar Jahre vergehen würden, und zwei dieser Bauern würden Volkskommissare sein und der jüngere würde zum

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