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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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hatte gesagt: „das Werk … es wird schon vernichtet“. ‚Mein Gott‘, dachte Mark. ‚Ist nun wirklich alles aus?‘
    Aber mit einem Seitenblick sah Mark, dass alle Zuschauer ruhig waren und interessiert weiter zuhörten. Sie hatten offenbar den Fehler nicht bemerkt.
    „Sie hörten das Gedicht ‚Gespräch mit dem Genossen Lenin‘ von Wladimir Majakowski“, verkündete Mark mit zitternder Stimme und hinkte, ohne auf den Applaus zu achten, ohne sich vor den Zuschauern zu verbeugen, hinter die Kulissen. In der Künstlergarderobe war bereits niemand mehr. Mark zog den Mantel an und dachte voll Entsetzen an diesen dummen Fehler.
    Das kam wahrscheinlich von dem Sturz auf den Boden, entschied er.
    Mark setzte Kusma in den verbeulten Käfig und verließ die Garderobe.
    Man verhaftete ihn und Kusma auf dem Bahnsteig von Perwyje Kaganowitschi, als bis zur Ankunft des Vorort­zuges nur noch drei Minuten blieben.

Kapitel 35
    Der Herbst überfiel Sarsk unvermittelt, wie auf Befehl. Es war, als wären die Blätter der Bäume an einem einzigen Tag gelb geworden, dicke Wolken senkten sich tiefer herab und begannen die Stadt mit einem unangenehmen kalten Regen zu übergießen.
    Dobrynin und Waplachow eilten im Laufschritt, unter einem gemeinsamen Regenschirm, zur Fabrik. Im Raum der Kontrolle zogen sie ihre blauen Arbeitsanzüge an und machten sich an ihre monotone, gewohnte Arbeit. Der Plan für die Rotarmisten war Ende September übererfüllt gewesen, doch dann war die unerwartete Anordnung einge­troffen, für die Aufmärsche der Pioniere und Oktoberkinder dreitausend aufblasbare Matrosen herauszubringen. Um das recht­zeitig zu schaffen, arbeitete das Werk Nummer Acht in anderthalbfachen Schichten, und die Kontrolleure kamen mit Mühe dazu, die Produktion zu überprüfen.
    Beim Mittagessen in der Fabrikskantine setzte sich der Leiter der Kaderabteilung Sofrontow zu ihnen.
    „Das Gefängnis von Krasnojarsk hat sich bei unserem Direktor für Soja Matrossowa bedankt“, sagte er. „Sie arbeitet dort in der Sockenfabrik und übererfüllt den Plan.“
    Dobrynin freute sich, als er diese Nachricht hörte.
    „Ja“, sagte er. „Wer von uns hat in der Jugend keine Fehler gemacht?“ Und nachdem er kurz überlegt hatte, fügte er gleich noch hinzu: „Ich habe allerdings, glaube ich, keine Fehler gemacht.“ Aber da fielen ihm die japanischen Revolutionäre und die ganze Geschichte mit dem Kommunisten Kriwizkij ein, den sie auf dem Feuer verbrannt hatten. „Vielleicht habe ich doch Fehler gemacht … aber das war schon nicht mehr in der Jugend …“
    „Auch ich habe Fehler gemacht“, winkte Sofrontow mit seiner einzigen Hand ab. „Hast du denn keine Fehler gemacht, Dmitrij?“
    Waplachow hielt mit dem Löffel Kohlsuppe vor dem Mund inne.
    „Sicher nicht, na, ich weiß nicht mehr“, sagte er. „Nein, wahrscheinlich nicht.“
    Spät und auch wieder im Regen kehrten die Kontrolleure in ihr Wohnheim zurück.
    „Gibt es hier dann Schnee?“, fragte der Urku-Jemze unterwegs.
    „Gibt es, gibt es“, seufzte Dobrynin müde. „Fehlt er dir etwa?“
    „Ja“, gestand Waplachow. „Er fehlt mir sehr. Weißt du noch, wie er unter den Füßen knirscht: krts-krts, krts-krts … Ich bin so einen langen Sommer nicht gewöhnt …“
    Im Wohnheim empfing sie die Hausleiterin.
    „Ich warte hier schon seit einer Stunde auf Sie“, erklärte sie. „Sehr wichtige Post ist gekommen … aus Moskau. Ich habe den Empfang schriftlich bestätigt, und dann waren Sie die ganze Zeit nicht da … ich hab mich gefürchtet, die Sendung liegt bei mir im Safe mit den Schlüsseln, gleich hol ich sie …“
    Und sie eilte den Flur entlang zu ihrem Zimmer.
    Im zweiten Stock holte sie sie wieder ein, Dobrynin öffnete gerade die Tür.
    „Hier, Genosse Dobrynin!“, sagte sie außer Atem, wobei sie dem Kontrolleur ein großes, in Papier eingeschlagenes Päckchen aushändigte.
    In ihrem Zimmer sah Dobrynin im Licht des von der Decke hängenden schwachen Lämpchens müde auf das Päckchen, und da knickten ihm geradezu die Beine ein. Er sah sich um – bis zum Stuhl am Tisch war es näher, als bis zu seinem Bett, und er setzte sich an den Tisch und ließ das Päckchen vor sich sinken.
    „Was ist das?“, fragte ihn der Urku-Jemze, der sich die Schuhe ausgezogen hatte und auf seinem Bett saß.
    „Vom Genossen Twerin …“, sagte leise Dobrynin, der seinen Augen noch immer nicht traute.
    Das harte Packpapier raschelte. Dobrynin wickelte das Päckchen

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