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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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aller Art von Essen und beim Fleisch …“
    Während er das sagte, brachte er Schüsseln, Messer und drei Scheiben Brot auf den Tisch. Dann holte er geräuchertes Fleisch, und hier wurde dem Engel geradezu schwindlig von dem süßlichen rauchigen Duft – und ihm fiel ein, dass er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte.
    „Hast du die Neuigkeit schon gehört?“, fragte Sachar kauend. „Unsre Bauarbeiter sind aufgetaucht. In Katerinowka, das ist drei Stunden von hier. Man hat sie uns abgeworben. Jetzt bauen sie dort den Dorfsowjet.“
    „Sollen sie doch bauen!“, knurrte Pjotr. „Was sind das denn für Bauarbeiter, die man so leicht abwerben kann! Unzuverlässige …“
    „Das stimmt …“, seufzte Sachar.
    „Ist denn dort in Katerinowka das Leben besser?“, fragte der Engel, während er sich das nächste Stück Fleisch abschnitt.
    „Besser vielleicht nicht, aber einfacher“, antwortete Sachar. „Man hat ihnen da für ihre ganze Brigade ein Haus gegeben und sonst noch alles Mögliche versprochen …“
    „Demid Polubotkin war heute bei uns“, teilte Pjotr mit.
    „Wollte er wieder Fleisch im Austausch für Lieder?“, fragte der Engel.
    „Nein, er wollte reden.“
    „Ja, er ist irgendwie seltsam“, sagte Sachar. „Er sagt, er hat das Singen satt. Er will etwas Richtiges machen, aber, sagt er, bis jetzt kann er noch nichts anderes.“
    „Ich habe seine Lieder schon lange nicht mehr gehört“, gestand der Engel.
    „Niemand hat sie seit dem Sommer mehr gehört“, sage Sachar. „Vielleicht hat er Liebeskummer? Die Lehrerin hat ihn doch, na, wie sagt man, fallengelassen. Vielleicht ist es für ihn ja auch mit ihr überhaupt nie etwas geworden?!“
    Hier dachte der Engel an Katja, und ihm wurde traurig zumute. Anscheinend bemerkte Sachar das, hatte seinen Fehler erkannt und beschloss, ihn wiedergutzumachen.
    „Na, wie ist das Fleisch heute?“, fragte er und sah dem Engel in die Augen.
    „Es ist gut“, sagte der Engel.
    „Warte nur mal kurz, ich bringe gleich noch anderes!“ Sachar verließ den Tisch und kehrte mit einem anderen Stück zurück, schnitt selbst davon Scheiben ab und verteilte sie an Pjotr und den Engel. Der Engel nahm das Stück, roch daran und steckte es in den Mund.
    „Ja, für das Gute gibt es keine Grenzen!“, stellte der Einhändige fest, während er das Räucherfleisch kaute.
    „Ja“, sagte Sachar. „Das ist Truthahn. Die Kolchosbauern haben es gestern für unsere Arbeit gebracht. Schau nur, wie geradezu süß es geworden ist!“
    Der Engel nickte. ‚Ja‘, dachte er traurig. ‚Für das Gute gibt es keine Grenzen.‘ Nur dachte er nicht an das Fleisch, sondern an das Leben und alle seine Seiten, die alltäglichen und die festlichen.

Kapitel 38
    Vor dem dicht vergitterten Fenster schien die Sonne und sangen die Vögel. Doch im Innern, in der sauberen, aber feuchten Zelle, war es kühl und still.
    Mark Iwanow lag auf seiner Pritsche, sah an die Decke und erinnerte sich an die kurze Gerichtsverhandlung, nach der er und Kusma sich hier wiedergefunden hatten, in der großen Gefängnisstadt hinter dem Ural, in dieser Zelle mit den krankenhausweiß verputzten Wänden und Decke.
    Er war schon nicht mehr traurig. In den ersten Monaten war er über alles aufgeregt, beunruhigt und nervös gewesen. Dann hatte er das Gefängnisleben begriffen, und es jagte ihm keine solche Furcht mehr ein. Mit der Zeit gab es sogar Bekannte unter den nebenan einsitzenden Verbrechern, und einer unter ihnen, ein junger, geschickter Bursche, den alle Jurez nannten, war sein Freund geworden. Ja, ein echter Freund. Eben Jurez auch hatte Marks und Kusmas Leben zum Besseren gewendet, er hatte Mark erklärt, was man wie tun musste, um zu überleben. Der Künstler hatte es versucht, und es war tatsächlich gelungen. Für den Anfang hatte Kusma ein paar Sträflingsballaden auswendig lernen müssen. Kusma lernte sie schnell und gern – es war Mark, dem sie überhaupt nicht gefielen, um nicht Schlimmeres zu sagen. Danach begann Jurez seine Verbrecherfreunde zu Mark in die Zelle zu führen, die Kusma mit Freude lauschten, klatschten, fluchten und Tee, Seife, Brot und alles, was sie auf irgendeine Weise organisierten, in der Zelle zurückließen. Sodass es sich davon nicht nur für Mark leichter lebte, sondern auch für Kusma das ein oder andere abfiel. So vergingen die Tage, so zog sich die sagenhafte Haftzeit hin – fünfundzwanzig Jahre! Um den Vogel machte Mark sich weniger Sorgen als um sich

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