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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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linkes und dann wieder sein rechtes Auge im Spiegel zu sehen war.
    Die Tür flog auf, und ein Strom von Kindern ergoss sich in das Zimmer, angeführt von einer kleinen, knabenhaften Frau.
    „Die Mäntel legt ihr in die Ecke!“, kommandierte sie ihre Schützlinge.
    Mark beobachtete die Kinder gleichgültig.
    Plötzlich blieb die kleine Frau vor ihm stehen und streckte die Hand aus.
    „Künstlerische Leiterin des Kinderchores ‚Rotes Sternchen‘, Tatjana Iwanowa.“
    „Mark Iwanow, Künstler“, stellte Mark sich seinerseits vor, wobei er die Hand der Frau sanft drückte.
    „Namensvettern!“, lächelte sie und ging, um sich mit der Sängerin bekannt zu machen, die jetzt am Fenster stand und in den Nieselregen hinaussah.
    ‚Morgen ist frei‘, dachte Mark. ‚Dann kann ich ins Kino gehen … und ich muss endlich bei der Kantine der Wasserleitungsarbeiter vorbeischauen – und vielleicht jenes Mädchen irgendwohin einladen?‘
    Plötzlich lenkte ein Krachen Mark von seinen Gedanken ab, er drehte sich um und erblickte zu seinem Entsetzen den zu Boden gefallenen Käfig und darin Kusma, der die blau-grünen Flügel spreizte.
    Mark sprang auf, hob den von dem Schlag zerbeulten Käfig auf und holte den Papagei heraus.
    „Man muss schon überlegen, wo man seine Sachen hinstellt“, erklang belehrend die dünne Stimme der Chorleiterin. „Der Schminktisch ist dazu nicht da!“
    „Sie … Sie …“, begann Mark aufgeregt und drückte Mark an seine Brust. „Sie sind ein herzloser Mensch!“
    Die kleine Frau löste sich von dem Spiegel und warf ihrem Namensvetter einen verachtungsvollen Blick zu.
    Die Tür öffnete sich und jemand rief: „Der Chor bitte auf die Bühne!“
    Die Frau stand ohne Hast auf und ging hinaus, und hinter ihr her strömte die Bubenschar in einheitlichen blauen Anzügen mit Pionierhalstüchern und die Mädchen in Kleidchen von derselben Farbe.
    Mark saß auf einem Stuhl und zitterte.
    „Es ist doch alles in Ordnung mit ihm, schauen Sie, wie er den Kopf dreht!“, versuchte die Sängerin den Künstler zu beruhigen.
    Mark betrachtete den Papagei genau: Der Vogel sah ein wenig aufgeregt, aber sonst tatsächlich normal aus. Nur der Käfig hatte unter dem Sturz gelitten, doch was kostete es Mark, das Drahtgestell geradezubiegen? Das war eine Kleinigkeit, ähnliche Unfälle hatte Mark mehr als einmal erlebt.
    Schon etwas ruhiger setzte Mark sich selbst an den Schminktisch, sah sich im Spiegel an und sann nach.
    „Sie sollten sich die roten Flecken im Gesicht überpudern!“, riet ihm die Volkssängerin.
    Mark befolgte den Rat, umso mehr, da eine geöffnete Puderdose und ein mit Watte gefülltes blaues, glasiertes Schälchen direkt vor ihm standen. Er rupfte ein wenig Watte ab, stippte sie in den Puder und fuhr sich damit über die roten Flecke.
    „Aber so doch nicht …“, sagte die Sängerin weich. „Kommen Sie, ich mache das für Sie.“
    Sie trat zu ihm, nahm ihm die Watte mit dem Puder aus der Hand und puderte Mark mit zärtlichen Bewegungen.
    Da ging die Tür auf, und sie wurde auf die Bühne gerufen.
    Mark wollte ein wenig allein sein, doch das gelang ihm nicht. Aus dem Flur drang schon das Trappeln der Kinderfüße herein. Um sich die Stimmung nicht endgültig zu verderben, nahm Mark den Papagei und machte sich auf den Weg zur Bühne.
    Schließlich war er mit seinem Auftritt an der Reihe.
    Als er aus den Kulissen getreten war und vor dem Mikrofon stand, warf Mark einen Blick in den Saal und spürte die freudige Erregung: Hunderte von Menschen saßen vor ihm, viele von ihnen waren Ordensträger. Und in der ersten Reihe, genau in der Mitte, saß ein Mensch, dessen Gesicht Mark nur auf Bildern und in Zeitungen gesehen hatte. Es war Genosse Twerin, der Führer ihres Landes, das den Faschismus besiegt hatte.
    „Also, trag vor!“, flüsterte Mark Kusma zu.
    Kusma zögerte ein paar Sekunden und erschreckte damit den Künstler. Dann begann er zu sprechen, zu deklamieren.
    Hunderte Augenpaare sahen auf ihn.

    „Genosse Lenin,
    nicht dienstlich mehr,
    herzlich
    sei Ihnen berichtet.
    Genosse Lenin,
    das Werk, höllisch schwer
    wird
    glücken,
    es wird schon vernichtet.“

    Etwas in Mark war zusammengezuckt. Während er spürte, wie ihm Arme und Schultern taub wurden, versuchte er fieber­haft zu begreifen, was passiert war. Und da, als er es endlich begriff, wurde ihm übel. Ja, der Papagei hatte ein Wort in dem Gedicht verwechselt, ein Wort nur, aber was für eines! Was hatte er gesagt: Er

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