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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Karpowitsch.
    Banow nickte und beobachtete weiter.
    Der Kremlträumer öffnete weitere Pakete und erstaunlicherweise lag in jedem davon ein Anzug, ein schöner, gutgenähter, aber sehr großer Anzug.
    Der Träumer versuchte noch ein paar Sakkos anzuprobieren, doch hatte das keinen besonderen Sinn. Von der Größe her glichen diese Sakkos mehr einem langen Herbstmantel.
    Der Träumer weinte.
    Banow sah ihn an und verspürte Mitleid mit diesem Menschen.
    „In fünf Minuten wird es regnen!“, kündigte Karpowitsch an, wobei er auf seine Uhr sah.
    „Woher weißt du das?“, wunderte sich Banow.
    „So ist es festgelegt. Immer um halb zwei regnet es hier“, erklärte Karpowitsch. „Jetzt bringt man ihm das Mittag­essen, und wenn der Regen anfängt, wird er in seiner Laub-hütte verschwinden und essen.“
    Banow richtete erneut das Fernglas auf den Kremlträumer.
    Hinter der Laubhütte erschien ein Soldat mit einem dreistöckigen Henkelmann in der Hand. Er begrüßte den Kremlträumer und trug den Henkelmann in die Laubhütte. Dann kehrte er zu dem Träumer zurück und begann die fortgeworfenen Anzüge einzusammeln und sie in einen Leinensack zu stecken. Nachdem er die Anzüge eingesammelt hatte, legte er die bereits gelesenen Briefe in denselben Sack. Danach sah er sich prüfend um, ob ihn niemand beobachtete, und reichte, als er niemanden gesehen hatte, dem Kremlträumer zum Abschied die Hand.
    Der Träumer hatte zu weinen aufgehört, erhob sich, sagte etwas zu dem Soldaten und drückte seine Hand.
    Der Soldat warf den Sack über die Schulter und verschwand glücklich lächelnd hinter der Laubhütte.
    Die ersten Regentropfen fielen zur Erde.
    Banow sah, wie der Kremlträumer besorgt zum eben noch blauen Himmel hinauf blickte und in seine Behausung eilte.
    Die Tropfen wurden zahlreicher. Einer fiel dem Schuldirektor direkt auf die Nase.
    „Gehen wir!“, beeilte sich jetzt Karpowitsch. „Für heute reicht es.“
    „Könnten wir denn noch einmal herkommen?“, fragte Banow, während er seinem Genossen das Fernglas zurück-gab.
    „Wir werden sehen …“, antwortete Karpowitsch.
    Eine Viertelstunde gingen sie im Regen durch die Wiese, bis sie zu dem schon bekannten Pfad kamen, der sie zu dem zweistöckigen Gebäude zurückführte.
    „Warum hat dieser Soldat denn seine Briefe mitgenommen?“, fragte Banow.
    „So ist es festgelegt. Alle Briefe kommen anschließend in das Institut für Marxismus-Leninismus, und dort werden sie sicher studiert, denn es sind ja keine simplen Briefe!“
    Banow nickte verstehend.
    Sie betraten das schon bekannte Gebäude. Und stießen gleich hinter der Tür auf einen Wachposten.
    Der Posten warf ihnen einen gleichgültigen Blick zu und sagte kein einziges Wort.
    Wieder liefen sie durch den Korridor und gelangten am Ende schließlich in eben jenen Raum, in dem sie mit dem Postaufzug eingetroffen waren.
    Das Zimmer war leer, offenbar war die Schicht von Karpowitschs Landsmann schon zu Ende gegangen.
    Wieder stiegen sie in den Postaufzug. Karpowitsch zog die Tür zu und drückte innen auf einen Knopf.
    Der Aufzug kroch langsam aufwärts.
    „In siebenundzwanzig Minuten springen wir hinaus!“, kündigte Karpowitsch an, wobei er auf seine Uhr sah.
    Die Zeit verging unerträglich langsam. Das Licht der starken Birne, die im Aufzug hing, stach in die Augen.
    Banow versuchte sich so zu setzen, dass er der Lampe den Rücken kehrte, aber das gelang nicht.
    „In einer Minute springen wir!“, kündigte Karpowitsch an.
    In den engen Schacht des Aufzugs drang plötzlich ein modriger Luftzug herein.
    Karpowitsch zog die Tür zu sich her, stieß sich mit den Füßen an der Rückwand ab und hechtete hinaus in den dunklen Fleck des hier beginnenden unterirdischen Ganges. Banow schaffte es gerade noch, ihm nach zu springen. Während er noch auf dem kalten Beton neben dem Schacht lag, blickte er zurück. Der Aufzug war schon nicht mehr zu sehen, nur das sich entfernende Summen drang noch ans Ohr.
    Karpowitsch führte Banow nach oben und begleitete ihn sogar bis zum Tor, wo sie sich verabschiedeten.
    „Ruf an!“, sagte der alte Kampfgefährte zum Abschied.
    Der Schuldirektor stand noch eine Weile da und kam wieder zu sich. Eine Erschöpfung von ungeheurer Schwere hatte sich auf seine Schultern gelegt. Er hätte sich gern irgendwo hingesetzt und ausgeruht, aber er musste gehen, er musste in die Schule zurückkehren.
    Und Banow ging los.
    Kurz darauf stieß er auf die dicht gedrängte Warteschlange vor

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