Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
nehmt, ich habe da ein paar Briefe geschrieben …“
    Karpowitsch nahm aus den Händen des Kremlträumers einige Kuverts.
    „Und Sie?“ Der Kremlträumer musterte Banow scharf. „Sie habe ich hier noch nie gesehen! Sie sind …“
    „Mein Gehilfe!“, erklärte Karpowitsch schnell.
    „Aha“, nickte der Träumer. „Na gut!“
    „Auf Wiedersehen“, verabschiedete sich Karpowitsch von dem Träumer.
    „Ja, ja. Auf Wiedersehen, ihr Lieben!“, sagte der Kremlträumer, ohne sich von der warmen, von der Sonne durchdrungenen Erde zu erheben.
    Banow wandte sich ab und schritt in die Richtung los, aus der sie gekommen waren, doch da hörte er hinter seinem Rücken Karpowitschs unzufriedenes Flüstern: „Wohin denn? Wohin gehst du nur?! Halt!“
    Der Schuldirektor blieb stehen und drehte sich um.
    Karpowitsch wies mit der Hand in eine vollkommen andere Richtung.
    Banow schwankte unschlüssig, ihm schien, dass er sich an den Weg erinnert hätte, auf dem sie her gekommen waren.
    „Wir gehen einen anderen Weg!“, flüsterte Karpowitsch nachdrücklich und wies noch einmal mit unauffälliger Geste die Richtung.
    Banow blieb nichts übrig, als seinem alten Kampfgefährten zu folgen.
    Vor ihnen lag ein Hügel von etwa derselben Höhe, wie jener, an dessen Hang der Kremlträumer lebte.
    Der Hausmeister und der Schuldirektor gingen hinunter, traten vorsichtig über eine schmale, sumpfige Stelle hinweg, die die Hügel am Fuße voneinander trennte, samt einem kleinen Bach. Und stiegen auf die Kuppe des nächsten Hügels.
    „Setz dich!“, befahl Karpowitsch und kauerte sich selbst hin.
    Banow setzte sich ins Gras.
    „Hier bleiben wir erst einmal“, sagte Karpowitsch. „Von hier aus sieht man gut.“
    „Was sieht man denn?“, fragte Banow nach.
    Statt einer Antwort holte Karpowitsch einen großen Feldstecher aus seiner Hosentasche, hob ihn vor die Augen, drehte ein wenig und stellte die Schärfe ein.
    ‚Deshalb also hingen seine Hosen so herunter!‘, erkannte Banow und betrachtete die großen, schweren Linsen des Feldstechers.
    „Nimm!“ Karpowitsch hielt seinem Genossen das Fernglas hin.
    Banow sah hinein und nahm es sogleich wieder von den Augen fort – allzu ungewohnt war diese vielfache Vergrößerung der Gegenstände, und erst recht das unvermutet nahegerückte Gesicht des Mannes, der am Hang des benachbarten Hügels lebte.
    Banow holte tief Luft und blickte noch einmal durch das Fernglas, jetzt schon ruhiger, und, wenn man das sagen kann, gelassener. Er sah, wie der Kremlträumer die Briefe las, wobei er die Lippen bewegte und auf vielerlei Arten lächelte, mal listig, mal kindlich aufrichtig und froh. Er las schnell, überflog einfach einen Brief nach dem anderen. Hier fiel Banow ein, dass jemand von den sehr alten Bolschewiken, die in seiner Schule aufgetreten waren, den Kindern erzählt hatte, dass der Führer nur auf eine beschriebene Seite zu schauen brauchte und sie schon wiedergeben konnte, und das sogar in mehreren Sprachen.
    ‚Also ist das wahr!‘, dachte Banow und bemerkte im nächsten Augenblick, wie das Gesicht des Kremlträumers außerordentlich ernst wurde.
    Es sah so aus, als würde der Kremlträumer jenen Brief mehrmals lesen, bevor er ihn zur Seite legte, zu Füllfeder­halter, Tintenfaß und Papier griff und schnell etwas zu schreiben begann.
    ‚Eine Antwort!‘, erriet Banow.
    Als er zu Ende geschrieben hatte, beruhigte sich der Kremlträumer, las noch etwa zwei Dutzend Briefe und hob sich die übrigen, wie es aussah, für später auf. Nun nahm er sich die Pakete vor. Er öffnete eines, zog aus dem Karton ein Stück Stoff und begann es zu betasten und zu streicheln.
    „Gleich weint er!“, sagte Karpowitsch plötzlich.
    Verständnislos blickte Banow auf seinen Genossen, doch der winkte ab.
    „Schau hin, schau hin, lass dich nicht ablenken!“, sagte er.
    Erneut hob Banow das Fernglas vor die Augen.
    Der Kremlträumer war aufgestanden, der Stoff in seinen Händen hatte sich entfaltet und stellte sich als Sakko heraus. Er versuchte es anzuziehen, doch das Sakko war riesengroß und reichte ihm bis zu den Knien. Der Träumer bückte sich, nahm die dazu gehörenden Hosen in die Hand, und da bemerkte Banow, wie dem Kremlträumer Tränen über die Wangen liefen. Er probierte die Hosen gar nicht erst an, auch so war zu sehen, dass sie für einen Menschen genäht waren, der doppelt so groß sein musste wie der Träumer. Aber gab es solche denn überhaupt?!
    „Weint er?“, fragte

Weitere Kostenlose Bücher