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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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gegenüber einer Frau. Aber dennoch wollte er die Neuigkeit gern mit jemandem teilen, und vorsichtig, fast flüsternd sagte er: „Klara, er lebt!“
    „Wer?“, fragte Klara.
    „Er … der Kremlträumer … nun, der, welcher lebte, lebt und leben wird …“
    Klaras Augen wurden groß und rund.
    „Wie?!“, rief sie aus.
    „Ich bitte Sie nur, erzählen Sie niemandem davon … Ich habe ihn heute selbst gesehen … durchs Fernglas …“
    Etwas schnürte Banow den Hals zu, als hätte er sich an seinen Worten verschluckt.
    „Wo haben Sie ihn gesehen?“
    Der Schuldirektor schüttelte nur ablehnend den Kopf und fügte dem Gesagten kein einziges Wort mehr hinzu.
    Sie hatten ihren Tee ausgetrunken und stiegen bereits durch das Dachfenster hinunter, da fühlte sich Banow mit einem Mal nicht ganz wohl in seiner Haut. Ihm schien, als habe er Klara gekränkt, und da umarmte er sie in der Dunkelheit des Dachbodens, drückte sie an sich und sagte: „Vielleicht gehen wir ja einmal gemeinsam zu ihm …“
    Als Klara fort war, blickte Banow auf die Uhr. Es war beinahe elf.
    In einer Stunde musste er wieder in der Warteschlange stehen.
    Er fand den Mann in dem dicken grauen Wollmantel ohne Mühe. Die Schlange hatte sich gegen Mitternacht fast bis zur Biegung vorgeschoben.
    Banow war müde, die Augen fielen ihm zu.
    „Morgen früh bringe ich Ihnen Tee“, versprach der Mann im dicken Wollmantel. „Ich habe eine Thermoskanne!“
    Banow merkte sich seinen Platz – vor ihm stand nun ein alter Mann mit einem langen, schwarzen Bart, hinter ihm waren mehrere Bauern.
    ‚Ich versuche ein bisschen im Stehen zu schlafen‘, be­schloss der Schuldirektor.
    Wie gut, dass die Schlange sich nachts nicht fortbewegte.
    Schließlich nahm Banow sich ein Beispiel an den Bauern, jenen, die hinter ihm waren, und setzte sich ebenfalls, wie sie, direkt auf den Gehsteig, zog die Knie an, legte die Arme darum und schlummerte auf diese Weise ein.
    Als er erwachte, hörte er hinter seinem Rücken eine Unterhaltung.
    „Und wenn er es ist?“, sagte einer der Bauern. „Wie er­kennst du ihn?“
    „Ach, was, das sieht man sicher … Ich hab eine alte Zeitung dabei!“
    „Zeig!“
    „Nein, die ist unten drin, wozu umsonst herauszerren?“
    Banow drehte sich um, und augenblicklich verstummten die Bauern und musterten ihn misstrauisch.
    Der Morgen brach an. Die Dämmerung begann sich aufzulösen. Doch die Laternen brannten noch.
    Der Schuldirektor blickte zu der Uhr, die an dem nächsten Mast hing.
    Zwanzig nach sechs.
    In vierzig Minuten musste der Mann im grauen Wollmantel kommen und Tee bringen.
    Die vierzig Minuten verflogen schnell. Tatsächlich kam der Mann sogar früher, um fünf vor sieben. Und er brachte nicht nur Tee, sondern auch ein belegtes Brot mit Speck, so dass Banow sogar frühstücken konnte.
    „Na, gehen Sie und ruhen Sie sich aus!“, sagte der Mann zu seinem kauenden Schlangennachbarn. „Kommen Sie um drei wieder, vielleicht sind wir dann schon ganz nah, dann stehen wir gemeinsam bis wir drin sind!“
    Gegen fünf Uhr nachmittags hatte Banow sich dem Eingang zum Mausoleum bereits dicht angenähert. Die Bauern, die hinter ihm standen, schwiegen angespannt. Darüber freute sich der Schuldirektor ein wenig, weil er ihre unverständlichen Streitereien satt hatte, in denen am häufigsten zwei Sätze erklangen: „Er ist es!“ und „Er ist es nicht!“.
    Der Mann im dicken Wollmantel, der vor ihm stand, schwieg ebenfalls. Irgendwann gegen halb vier war ihm schlecht geworden, und einer der Nachbarn aus der Schlange hatte seine Herztabletten mit ihm geteilt. Jetzt fühlte er sich scheinbar besser, war aber schrecklich bleich.
    Die Schlange bewegte sich kaum merklich, jedoch stetig.
    Hier war auch schon die marmorne Schwelle. Und eine Stufe.
    Banow brannte vor Ungeduld, den Führer zu erblicken.
    Die Bauern hinter seinem Rücken begannen wieder zu flüstern, doch da rief sie jemand zur Ordnung.
    Langsam bog die Schlange nach rechts ab. Noch anderthalb Stufen, und er würde ihn sehen … Aber nein, dort war noch eine Biegung.
    Endlich sah Banow ihn. Er lag unter dem Glas, gelb, wie aus Kirchenkerzenparaffin. Während er langsam vorbeizog, beugte sich der Schuldirektor zu dem, der unter dem Glas lag, und sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Etwas kam Banow dort verdächtig vor, und es gelang ihm, sich noch einmal tiefer hinunterzubeugen – tatsächlich erblickte er, so schien ihm, kaum merkliche kleine Risse, wie sie manchmal an alten

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