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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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dem Mausoleum.
    Er blieb stehen, betrachtete aufmerksam die Gesichter der Menschen, die in dieser Schlange standen, und wurde nachdenklich. Er dachte lange nach und beschloss dann, dass er unbedingt ebenfalls dort ins Mausoleum hinein musste, um mit eigenen Augen zu sehen …
    Er ging das Ende der Schlange suchen. Nach zwanzig Minuten hatte er es gefunden und stellte sich hinter den letzten Bürger, der einen dicken grauen Wollmantel trug. Dann fiel ihm die Schule ein.
    „Bürger!“, wandte sich Banow an den vor ihm stehenden Mann. „Wissen Sie, wie lange man hier stehen muss?“
    Der Mann in dem dicken grauen Wollmantel drehte sich zu ihm um.
    „Wenn alles normal abläuft, dann kommen wir morgen gegen Abend rein“, sagte er.
    „Man muss also bis morgen stehen?!“, entfuhr es dem staunenden Schuldirektor.
    Der Mann sah Banow jetzt interessiert an.
    „Kommen Sie etwa das erste Mal her?“, fragte er und fuhr gleich darauf, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Wir könnten uns absprechen! Stehen wir gemeinsam abwechselnd an. Ich heute für uns beide bis Mitternacht, dann Sie für uns beide bis sieben Uhr morgens, dann wieder ich bis drei …“
    „Gut.“ Banow nickte. „Das heißt also, ich kann jetzt gehen?“
    „Ja“, bestätigte der Mann. „Aber um zwölf müssen Sie wiederkommen. Die Schlange wird sich bis dahin weiterbewegt haben, Sie werden mich beim dritten oder zweiten Mast finden, sehen Sie, dort, bei der Biegung …“
    Banow blickte in die angezeigte Richtung, sah, wo die Schlange um die Ecke bog, zählte drei Masten ab und nickte, nachdem er sich ihren ungefähren Treffpunkt gemerkt hatte.
    In der Schule war außer der Petrowna niemand. Die Petrowna wischte gerade die Böden im Erdgeschoss fertig. Heute war sie mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. Niemand hatte sie zur Eile angetrieben, niemand nötigte sie zur Tür hinaus, und es war ihr gelungen, nicht nur die Böden, sondern auch die Fensterbänke zu putzen, was sie äußerst selten schaffte.
    „Guten Tag, Wasilij Wasiljitsch!“, lächelte sie, als sie Banow in der Tür erblickte. „Wie geht es der Gesundheit?“
    „Gut, gut“, sagte Banow. „Bleiben Sie nicht zu lange, die Enkel warten doch sicher?!“
    „Ich gehe ja schon, ich gehe!“ Die Petrowna wiegte ihren grauen Kopf hin und her.
    Banow stand etwa drei Minuten neben ihr, bis sie ihre Sachen eingepackt und das Gebäude verlassen hatte.
    Das Schloss knackte – die Schultür war verschlossen, und Banow schob sich den langen Schlüssel in die Hosentasche und stieg in den ersten Stock hinauf.
    Auf dem Tisch in seinem Büro lag eine amtliche Nachricht aus dem Volkskommissariat für Bildung und Aufklärung, dem Narkompros, per Telefon diktiert.
    „Übermittelt durch den Diensthabenden Butjenko, aufgenommen durch Vizedirektor Kuschnerenko“, las Banow. Er setzte den Teekessel auf, setzte sich an seinen Tisch und nahm den amtlichen Text zur Hand.
    „Sich am 19. Oktober um 11 Uhr morgens im Kreml­palast einfinden. Mit sich führen: einige Doppelbögen Papier, Füllfederhalter, Pausenbrote. Es findet eine Versammlung der Schuldirektoren Moskaus und des Moskauer Gebiets statt, anschließend schreiben alle Direktoren einen Aufsatz zum Thema ‚Was sich in der Sowjetunion in den letzten zehn Jahren verändert hat‘.“
    ‚Was hat sich denn verändert?‘, fragte Banow sich, als er die Nachricht zu Ende gelesen hatte.
    Während er eine Antwort auf die Frage suchte, bekam er Kopfschmerzen.
    Dann kochte das Wasser im Kessel.
    Er durfte nicht vergessen, um Mitternacht zur Schlange zurückzukehren.
    Banow nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Rojds.
    „Hallo?“, ertönte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
    „Hallo, Klara?“
    „Ja. Genosse Banow? Wo haben Sie denn gesteckt?“
    „Viel Arbeit … Sehr viel Arbeit …“, antwortete der Schuldirektor. „Wie geht es Robert?“
    „Gut, Genosse Banow. Könnte ich gleich zu Ihnen kommen? Es ist trocken draußen …“
    Banow seufzte tief. Gern wäre er ein wenig allein gewesen, aber das ließ sich, schien es, schon nicht mehr verwirklichen.
    „Kommen Sie!“, sagte er.
    Eine halbe Stunde später saßen Banow und Klara auf dem Dach und tranken Tee.
    Es wurde bereits Abend.
    „Sie sind heute so aufgewühlt!“, bemerkte Klara hellsichtig. „Ist etwas passiert?“
    „Ja“, wollte Banow sagen, verstummte aber sofort, als er erkannte, dass er kein Recht hatte, zu erzählen, was er gesehen hatte, erst recht

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