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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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freiwillig hinzu und setzte sich in die hinterste Bank, um dieser hellblonden jungen Frau besser zusehen zu können. Ihr Unterricht war frisch und lebendig, doch sehr oft bestürzte es den Engel, dass viele der Sätze und Ausdrücke, die nach ihrem Diktat an die Tafel geschrieben wurden, einen unerfreulichen und sogar falschen Sinn enthielten. Der Engel litt jedes Mal sehr, wenn eine Bäuerin oder ein Rotarmist mit runden, unsicheren Buchstaben an die Tafel schrieb: „Die Bauern zünden das Haus des Gutsbesitzers an“, oder: „Es gibt keinen Gott“. Dieses letzten Satzes wegen kam es sogar zu einem Streit zwischen dem Engel und Katja, und durchaus nicht deshalb, weil der Engel sich dem Inhalt dieses Satzes widersetzt hätte. Denn so manche Auseinandersetzung hatte ihn schon gelehrt, dass man Katja mit einfachen Worten nicht von ihrer Überzeugung ab­bringen konnte. Nur hatte Katja dieses Mal, als die ganze Tafel mit derlei Sätzen vollgeschrieben war, gebeten, dass sie die von den Anderen beim Schreiben gemachten Fehler heraus­finden und aufzeigen sollten. Da hatte der Engel wie ein einfacher Schüler die Hand gehoben. Und offenbar erwartete die Lehrerin, die für einen kurzen Augenblick auf einmal sehr erfreut ausgesehen hatte, etwas ganz Anderes, als sie ihn bat, zu zeigen, welchen Fehler er bemerkt hatte. Der Engel stand natürlich auf und zeigte allen, dass in dem Satz „Es gibt keinen Gott“, das Wort „Gott“, anders als jedes gewöhnliche russische Hauptwort, mit einem großen Anfangsbuchstaben geschrieben werden musste. Darauf trat in der Klasse ein längeres Schweigen ein, und niemand hob mehr die Hand. Katja fasste sich, redete sich in Schwung und rief beinahe mit erhobener Stimme, während sie alle ihre schweigenden Schüler davon überzeugte, dass mit großem Anfangsbuchstaben nur die Namen von Städten und Dörfern geschrieben wurden, darüberhinaus auch Vor- und Nachnamen von Menschen, besonders von Helden und Führern der Revolution. Von Gott zu reden, sagte sie, sei überhaupt dumm, da es ihn einfach nicht gebe, was aus eben dem Satz hervorgehe, mit dem der ganze Streit begonnen habe. Und deshalb sei es auch sinnlos, dieses Wort groß zu schreiben.
    Es war im Grunde gar kein Streit gewesen, sondern einfach ein unerfreulicher Augenblick, sowohl für den Engel als auch für Katja. Und es verging wohl wenigstens ein Monat, bis ihre Beziehung sich wieder verbessert hatte.
    In all dieser Zeit jedoch kam der Engel immer ins Klassen­zimmer, setzte sich in die hinterste Bank und lauschte, manchmal mit uneingeschränktem Interesse, bestimmten Stunden, wenn Katja vom Aufstand des Spartakus berichtete oder von fremden Ländern erzählte, die sie selbst natürlich auch noch nie gesehen hatte. Dem Engel gefiel auch, dass die Lehrerin bei ihren Schülern auf die Ausrottung der Trunksucht, des Diebstahls und weiterer Sünden hinarbeitete. Das war zweifellos eine richtige und nötige Sache, denn im Neuen Gelobten Land wurde im Winter täglich getrunken, und nur wie durch ein Wunder ging es ohne „Eisvögel“ ab – so nannten sie hier die, die betrunken draußen erfroren. An diesem Wunder hatte Katja sehr großen Anteil, die mit den Bäuerinnen einen allabendlichen Rundgang im Neuen Gelobten Land organisierte, auf dem sie die im Schnee versackten betrunkenen Männer ausfindig machten und mit vereinter Anstrengung in den nächsten Kuhstall schleppten, wo sie sie bis zum Morgen am eingeheizten Ofen zurückließen.
    Der Frühling kam, und der Schnee auf den Feldern färbte sich bereits dunkel, er machte sich bereit, in die Erde einzusickern und jedes hineingeworfene Saatkorn mit Leben zu erfüllen.

Kapitel 4
    Es herrschte Krieg schon seit mehr als einem halben Jahr, doch Mark, der als Mitglied einer Künstler-Frontbrigade reiste, kam es vor, als sei viel mehr Zeit vergangen, seit Waldlichtungen, Podeste neben Schützengräben und Unterständen, Stabsquartiere und Frontkommandos zu den Orten seiner Auftritte geworden waren. Er hatte schon vergessen, wann er und Kusma zum letzten Mal allein aufgetreten waren. Jetzt, und eigentlich gar nicht jetzt erst, sondern seit Anfang des Krieges, hatte sich alles verändert. Verändert hatte sich die Herangehensweise an die Auswahl ihres Repertoires. Hier war das Allererstaunlichste geschehen – Genosse Urluchow aus dem ZK hatte auf Marks Ansicht gehört und ihm zugestimmt. Er war gleichfalls der Ansicht gewesen, dass für die Auftritte in Kampfpausen, in Lazaretten

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