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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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sie inne.
    Dobrynin wanderte mit dem Blick vorsichtig und beinahe furchtsam über jeden Bestatteten. Er wollte zum Abschied etwas sagen, aber das Bild war zu eigenartig, um nicht zu sagen, absurd. Und nachdem er das rituelle „möge die Erde euch leicht sein …“ geflüstert hatte, wandte der Volkskontrolleur sich ab, unterdrückte die Tränen in den Augen und ging langsam, auf das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen lauschend, zu ihrem Schlitten.
    ‚Was für Erde denn!‘, dachte er an die gerade flüsternd gesprochene Abschiedsformel. ‚Nichts als Schnee gibt es hier …‘
    Und plötzlich hörte er monotonen Gesang. Er wandte sich um.
    Dmitrij Waplachow stand vor dem Friedhofsbaum und sang ein trauriges urku-jemzisches Lied. Er sang leise, voller Inbrunst. Der Volkskontrolleur entsann sich, wie vor sehr langer Zeit, als er vielleicht fünf Jahre alt gewesen war, sein Urgroßvater starb. Großvater und Großmutter hatten damals aus dem Nachbardorf Klageweiber hergebeten, und den ganzen Tag hatten diese alten Frauen am Sarg des gelb gewordenen, bärtigen Ugroßvaters geheult, während er, das Kind, ihnen vom anderen Zimmer aus lauschte, die Worte aber nicht unterscheiden konnte.
    Dobrynin blieb stehen und lauschte dem Lied des Urku-Jemzen. Die fremde Sprache war ihm unverständlich, aber die Worte und Laute hielt er mühelos auseinander und spürte Trauer, Wehmut und großen Gram in ihnen.
    „End war pyn“ , sang Waplachow klagend,
    „Saryn kun dewit,
    Borajsat undur ban tewim,
    Parsan tyn urul gan niwot,
    Paran dun syktyn ban tewim.
    Ekwa-Pyr yrwat kan naryn,
    Par sajrat endo charan ten
    Bar tebun niran bat yran
    Borajsat undur ban tewim …“

Kapitel 3
    Der Frühling kam, und im Neuen Gelobten Land taute die Wärme als Erstes den Schnee von dem Hügel oben fort, ließ aber das Weiß auf den Feldern ringsumher liegen, was den Hügel aussehen ließ wie einen Buckel der Natur.
    Der vergangene Winter war nicht allzu streng gewesen. Die Siedler waren mit ihren Essensvorräten und auch mit dem Brennholz ausgekommen. Von allem war sogar noch reichlich übrig geblieben, doch galt es ja auch noch bis zur neuen Ernte durchzuhalten.
    Mit den ersten Sonnenstrahlen tauchte der bucklige Buchhalter wieder im Hof vor dem Hauptkuhstall auf. Er kam mit seinem dicken Heft in der einen und einem Hocker in der anderen Hand heraus. Dieses dicke Heft war wohl die einzige vollständige Sammlung von Aufzeichnungen über das Leben der Bewohner des Neuen Gelobten Landes. Darin führte er eine eigene Seite für die Eintragung der Neugeborenen. Als Erstes hatte er seinen Sohn eingetragen, den er Wasilij nannte. Wasilij war nun beinah ein halbes Jahr alt. Er war bereits kräftig geworden, hatte an Gewicht zugelegt und lächelte oft, wobei er seine kleinen listigen Äuglein zukniff. Er war bucklig wie sein Vater, doch bislang war sein Buckelchen auf dem zarten kleinen Rücken noch kaum auszumachen. Die Sache bekümmerte allerdings weder seine Mutter noch den Buchhalter besonders. Diesem gab es anscheinend sogar noch mehr Recht mit seinen Überlegungen, die er manchmal abends den Genossen mitteilte, wenn sie um den Tisch am warmen Ofen herum saßen. Gern erklärte er dann nämlich, das Taube Taube zur Welt bringen, Blinde Blinde, und Bucklige gleichfalls Bucklige, denn sonst gäbe es ja wohl derlei körperliche Unterschiede unter den Menschen nicht. Bis zu Wasilijs Geburt hatten sie immerzu mit ihm debattiert, waren nicht einverstanden gewesen und hatten Beweise verlangt. Nach der Geburt jedoch hörten sie ihm nurmehr schweigend zu und widersprachen ihm nicht mehr.
    Nach Wasilij waren noch zwei Kinder geboren worden: ein Junge und ein Mädchen. Sie wurden gleich nach Wasilij ebenfalls sorgsam eingetragen. Und jetzt, wo es auf den Frühling zuging, gingen schon an die fünfzehn Frauen schwanger, vielleicht auch mehr.
    Aber nicht das beschäftigte den Buchhalter, als er auf seinem Hocker unter den ersten Sonnenstrahlen saß. Er dachte an die kommende Aussaat, an den Neubau von Ställen und an andere Pläne, mit deren Entwurf und Ausführung er das Leben im Neuen Gelobten Land erleichtern und verbessern würde.
    Archipka-Stepan erfreute sich weiterhin der Verehrung und Hochachtung der Siedler, doch am Leben der Kommune hatte er keinen ernsthaften Anteil und war so etwas wie ein Ehrengast oder eine historische Gestalt, sozusagen der Urheber ihrer aller Ansiedlung auf diesem Hügel. Er lebte sein Leben wie alle, nur arbeitete er

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