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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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weniger, denn niemand machte ihm einen Vorwurf. Man bat ihn auch gar nicht, etwas zu tun, daher betätigte er sich mehr aus dem Wunsch nach Beschäftigung heraus, als der Ergebnisse wegen. Insgeheim war er dem Buchhalter sehr dankbar, der freiwillig und mit Freuden die ganze Last der Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft ihres Siedlervolks auf sich genommen hatte.
    Der Frühling kam, und der Engel, der aus dem Kuhstall herausgetreten war, wärmte sich an den ersten Sonnenstrahlen und dachte an sein vergangenes Leben im Paradies. Er verglich es mit seinem heutigen Leben, dem Leben unter den Menschen, und fand viel Gemeinsames in diesen beiden Leben, wenn nicht äußerlich, so doch innerlich. Und doch erschien ihm das Leben im Neuen Gelobten Land eher vollständiger, denn es war ein Leben, das aus Handlungen, Gedanken und Gefühlen bestand, nicht aus der stillen, paradiesischen Seligkeit, an der seine früheren Brüder und Schwestern sich erquickt hatten. Auch die Natur selbst war hier von vielfältiger Schönheit und gleichsam ursprünglich; es liefen keine Rehe und Hirsche herum, die man zu jeder Zeit streicheln konnte, es setzten sich einem keine lieblich singenden Vögel auf die Schulter. Vielmehr war alles einfacher und grober, aber das tägliche Krächzen der Krähen, die über dem Neuen Gelobten Land kreisten, schien ebenso Musik zu sein wie das seltene Lied der Lerchen im Frühling. Und erst die Vielfalt der menschlichen Charaktere, die den Engel umgaben. Hätte er sich früher jemals vorgestellt, dass dieses unsichtbare Spinnennetz aus unterschiedlich hellen Strahlen, die in den Herzen der Siedler entstanden, ihn einspinnen würde, ihn in unkomplizierte, und doch nicht einfache Beziehungen mit den Menschen hineinziehen könnte? Die Menschen selbst blieben ihm allerdings in vielem ein Rätsel. Und besonders wunderte ihn der Umstand, dass sie längst von dem Engel wussten, der unter ihnen lebte, auch wussten, dass er direkt aus dem Paradies zu ihnen gekommen war, aber dass dies bei ihnen nicht das geringste Interesse hervor rief. Nur sehr selten kam jemand von den Siedlern, am ehesten Frauen oder betrunkene Männer, mit ein, zwei Fragen zu ihm. Aber auch diese Fragen waren einförmig. Am häufigsten fragten die Leute: „Gibt es Gott denn wirklich?“ Wenn sie eine bestätigende Antwort erhalten hatten, nagelten sie den Engel dann mitunter fest und wollten hören, wie Gott so sei, ob er einen Bart trage, welche Farbe seine Augen hätten und dergleichen. Der Engel, der Gott nie gesehen hatte, versuchte den Siedlern jedes Mal den Unterschied zwischen Gott und einem Menschen zu erklären, aber stets gingen die Frager unbefriedigt davon, ohne den Engel zu Ende anzuhören. Vielleicht hielten sie, wie die Rotarmisten, den Engel einfach für einen Narren, aber auch hierin lag für den Engel ein Rätsel. Er konnte nicht verstehen, warum die Menschen glaubten, Narren und Verrückte seien Gott näher, als gewöhnliche gesunde Leute. So war es auch letztes Mal gewesen, als der betrunkene Brigadier der Bauarbeiter mit seiner Wattejacke, die noch schmutzig war vom vorigen Herbst, zu ihm gekommen war. Er hatte ihn ausgefragt, wie die Engel ihre Häuser bauten. Auf die Antwort, dass es im Paradies überhaupt keine Gebäude gebe, hatte er leise geschimpft, den Engel einen Einfaltspinsel genannt und gleich darauf, schuldbewusst nach oben blickend, Gott um Verzeihung gebeten. Er hatte dem Engel auf die Schulter geklopft und war nach Hause in seinen Kuhstall geschwankt.
    Wenn der Engel an den vergangenen Winter dachte, konnte er nicht anders, als auch an Katja zu denken. Nicht nur, weil er die allerwärmsten Gefühle für sie hegte. Der Winter im Neuen Gelobten Land war, wie in jedem Dorf, eine Zeit der Ruhe und des Ausruhens, und mit seltenen Ausnahmen fror jede Tätigkeit in dieser kalten Zeit bis zum Frühjahr ein. Zwei Menschen waren diese seltene Ausnahme im Neuen Gelobten Land: der Ofensetzer Sachar, der unaufhörlich das ihm von nah und fern aus dem ganzen Kreis gebrachte Fleisch räucherte, und die Lehrerin Katja, die den Bauern keine Ruhe ließ und nicht zuließ, dass sie tatenlos herumsaßen und sich dem Trunk ergaben. Nahezu mit List und Gewalt holte sie manch lieben Tag bis zu dreißig Erwachsene, zusätzlich zu den acht Kindern, in ihren Unterricht, und lehrte sie dort nicht nur das richtige Schreiben von Buchstaben und Wörtern, sondern auch ganz allgemein nützliche Gedanken. Manchmal kam auch der Engel

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