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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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schluchzte aufs Neue los. Dabei fasste sie Kosolobow um die Knie und erzählte allerlei traurigen Unsinn über hungrige Kinder, über das hartnäckige Drängen des Funkers und über den beinlosen Großvater, den sie jeden Tag zum Abort hinaus trug.
    All dieses Heulen und Wehklagen mitanzuhören machte Dobrynin ganz traurig. So ging er einfach hinaus und ließ den Leiter die Sache mit der Butter und der Frau allein regeln.
    Ein paar Minuten später kam auch Kosolobow heraus, trat an das Fenster der Essensausgabe und klopfte ungeduldig. Im nächsten Moment wurden wieder Teller mit Brei vor ihren Augen herausgeschoben, doch nun zerlief in jedem Teller ein großes, an die fünfzig Gramm schweres Stück gelbe Butter.
    Sie frühstückten in dem Gefühl des Sieges, als hätten sie eine echte Schlacht gewonnen.
    „Was machst du denn nun mit ihr?“, fragte Dobrynin vor seinem letzten Löffel mit Brei.
    „Was soll man schon mit ihr machen?“ Der Leiter zuckte die Achseln. „Sie ist doch nur eine Frau!“
    Dobrynin nickte.
    Waplachow verstand es nicht, machte sich aber keine Gedanken. Er mochte heißen Brei ebenfalls sehr gern, und der Brei mit Butter erschien ihm als eine Art Wunder, ein Zeichen dafür, dass Ekwa-Pyris ihnen half. Deshalb dachte Waplachow, während er die angenehme, zärtliche Wärme im Mund spürte, an den ewig unsterblichen Ekwa-Pyris, seine Weisheit und seine Güte.

    Ein paar Tage später betraten nach dem Mittagessen der Leiter und ein älterer, breitschultriger Mann in hohen schwarzen Filzstiefeln, mit wattierten Hosen und einer dicken Wattejacke ihre „Gemächer“.
    „So, macht euch bekannt“, sagte Kosolobow. „Das hier ist Genosse Kurilowez. Mit ihm fahrt ihr bis Moskau …“
    Der Volkskontrolleur und der Urku-Jemze schüttelten Kurilowez die Hand.
    Und da erkannte Dobrynin, dass dieser Mann tatsächlich verschiedenäugig war. Außer, dass er schielte, besaß er auch Augen von unterschiedlicher Farbe: eines grün, und das zweite braun.
    „Dann fahren wir heute abend“, sagte der verschiedenäugige Kurilowez. „Ich darf nicht lange stillstehen.“
    „Wir essen noch etwas zusammen, danach bringe ich euch zum Zug!“, versprach Kosolobow, und sie gingen wieder hinaus.
    Froh packte Dobrynin seine Sachen in den Reisesack, dann nahm er das zweite Büchlein „Lenin für Kinder“, das auf dem Nachttisch lag, und wollte es gleichfalls mit dazu packen, aber er zögerte. Er schlug es an der Stelle auf, an der er mit dem Lesen aufgehört hatte, setzte sich wieder auf sein Bett und wandte den Rücken dem Fenster zu, damit das Licht gut auf die aufgeschlagenen Seiten fiel.
    „Ich bleibe noch ein bisschen liegen?“, bemerkte Waplachow fragend.
    „Ja, schlaf ein wenig, ich wecke dich rechtzeitig!“
    Er selbst beschloss, die nächste Erzählung zu lesen. Die Geschichte hieß: „Erster Zweifel“. Dobrynin hielt den Atem an und begann zu lesen:

    Dieses trug sich unweit des Dorfes Kokoschkino zu, wohin die Familie Uljanow im Sommer in die Ferien fuhr. Der Sommer war warm, durchdrungen vom Gesang der Grillen und anderer Insekten, durchwärmt von freundlichen Sonnenstrahlen. Familie Uljanow wohnte in einem großen Holzhaus mit schön geschnitzten und verzierten Fensterrahmen. Im ersten Stock schliefen die Kinder, im Erdgeschoss die Eltern. Schnell flogen die Tage vorbei. Die glückliche Kindheit war angefüllt mit Spielen, Spaziergängen, Schwimmen und Fischfang. Immer öfter aber sann der junge Wolodja Uljanow über ernstere Dinge nach, als das Spiel: über die Gesetze der Natur, über das Leben der Menschen. Manchmal liebte er es, heimlich aus dem Haus von seinen Brüdern und Schwestern fort zu laufen und durch die malerische Umgebung des Dorfes zu streifen. Besonders gern folgte er dabei den Eisenbahngleisen, auf denen von Zeit zu Zeit starke schwarze Lokomotiven vorbeifuhren, die die Luft mit Tuten und dem herben Duft von Kohlenrauch erfüllten und das eine Mal Passagierwagen, das andere Mal Güterwagen oder Militärwaggons hinter sich herzogen. So ging Wolodja auch an diesem Tag, nachdem er heimlich fortgelaufen war, an der Eisenbahn-Trasse entlang. Er trug ein Matrosenhemd und blaue kurze Hosen. Er ging so und sann nach, und plötzlich sah er, dass an einer Stelle sich eine Schiene von der anderen gelöst hatte. Wohl zehn Zentimeter stand sie zur Seite heraus. Da erkannte Wolodja, dass es unweigerlich zu einem Unfall kommen musste, wenn hier ein Zug darüber fuhr. Und er beschloss, an der

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