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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Stelle stehen zu bleiben und zu warten, um den Unfall zu verhindern – gut, dass die Bahnstrecke hier geradeaus ging und es keine Kurven gab, hinter denen der Zug unerwartet hervorspringen konnte. Wolodja wartete wohl eine halbe Stunde, da plötzlich hörte er das bekannte Tuten. Direkt auf die Schienen stellte er sich, zog sein Matrosenhemd aus und begann es zu schwenken. Die Lokomotive näherte sich. Da aber sah der Lokführer den Jungen auf den Schienen und hielt den Zug an, dass die eisernen Räder kreischten. Und aus den Fenstern der Passagierwaggons schauten die Leute und dachten: „Warum stehen wir mitten im Wald?“ Der Lokführer kam zu Wolodja heraus. Der Junge zeigte ihm, was es da gab, und dachte dabei: „Jetzt rufen sie wohl eine Brigade und werden die Strecke reparieren.“ Der Lokführer aber wischte sich die Hände an seiner blauen Uniform ab, besah die Stelle von allen Seiten, ging zurück in seinen Führerstand und brachte von dort einen großen eisernen Hammer. Weit holte er aus, und mit gewaltiger Kraft schlug er auf die zur Seite herausstehende Schiene, dann noch einmal, mit aller Kraft! Lange schlug er mit seinem Hammer zu, und doch wurde die Schiene nicht vollkommen gerade. Da beugte der Lokführer sich darüber, maß den Spalt mit dem Daumen und blickte dann auf seine eisernen Räder. „Ach, wir kommen irgendwie drüber!“, sagte er, winkte ab und kletterte in seine Lokomotive hinauf. Lange ließ er es tuten, und die Fahrgestelle knirschten los. Wolodja sah dem vorüberfahrenden Zug zu und dachte: „Wie hinfällig ist doch unser Reich. Und das Volk ist stark, aber unverständig!“ Auf einmal sah er, dass der letzte Waggon des Zuges ein besonderer Waggon war, er führte auch eine Wache mit, und aus dem Fenster dieses Wagens sah ein alter schnauzbärtiger General des Zaren den Knaben an. Er lächelte, und dann winkte er sogar. Auch Wolodja winkte ihm zur Antwort, doch der Blick des Knaben war streng und ernst. Dem General des Zaren war es nicht gegeben zu erfahren, was für einen Knaben er aus dem Fenster seines Wagens gesehen hatte und woran dieser Knabe, als er den General sah, dachte.

Kapitel 14
    Gut sind die sowjetischen Menschen. Besonders gut sind sie dabei im Herbst, wenn auf den vom Feind nicht eroberten Feldern die reiche Getreideernte eingeholt wird, die für die Soldaten, für die Generäle und auch für die einfachen Evakuierten ausreichen muss. Und sie reicht ja aus! Ganz bestimmt reicht sie aus!
    Das dachte Mark Iwanow, als er in der Küche seiner Moskauer Dienstwohnung saß.
    Vor ihm wurde eine Tasse frischgekochter Tee kalt, dahinter standen eine leere Zuckerdose und der leere Käfig des Papageien, während Kusma oben auf ihm saß und sich mit seinen starken Krallen an der Kuppel aus Drahtgeflecht festhielt.
    Vor dem Fenster lag die dunkle feuchte Nacht.
    Mark hatte Hunger, er wollte nicht trinken.
    Auf seinem Tisch aber stand nur eine Tasse Tee und wurde kalt. Schon stieg kein Dampf mehr von ihr auf.
    Mark nippte an dem Tee und sah zum Fenster hinüber, das von der Straßenseite her angelaufen war.
    Es war so weit. Er und Kusma waren nun gesund und konnten aufs Neue die Aufgaben der Heimat erfüllen. Sie wussten nur noch nicht, wo man sie hinschicken würde. Und ob sie erneut als Mitglieder von Konzertbrigaden an der Front entlang reisen würden oder ob man sie in die entgegengesetzte Richtung schickte – um die Moral im Hinterland zu stärken.
    Mark trank noch einen Schluck von dem kalt gewordenen, kaum mehr lauwarmen Tee und sah zu Kusma.
    Der Vogel sah traurig aus: sein schöner Schnabel war gesenkt, in den Knopfaugen nichts von dem früheren Feuer, keinerlei Lebenshunger. Der verheilte Flügel lag nicht ganz am Körper an.
    ‚Das macht nichts‘, erklärte Mark dem Papagei in Gedanken. ‚Wir werden schon noch kämpfen, Kusma! Wir werden schon noch kämpfen!‘
    Glaubte er denn selbst an das, was er da dachte? Nein. Es war mehr das übliche Pathos, das jeder Sowjetmensch aus den Zeitungen aufsog und sein Leben lang in sich trug, und es für Siegeswillen und ähnliche kämpferische Eigenschaften hielt. Aber vielleicht war auch alles umgekehrt …
    Die letzten Tage und Nächte waren grau und neblig ge­wesen.
    Mark Iwanow und Kusma gingen nicht auf die Straße hinaus und hielten die Lüftungsklappen geschlossen – sie mussten jetzt auf ihre Gesundheit achten, und Mark, der das sehr gut verstand, achtete für sie beide darauf.
    In den nächsten Tagen würde Genosse

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