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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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sind schlecht, deshalb provisorisch. Gerade haben wir erfahren, dass der Krieg zu Ende geht, da wurde nun entschieden, in ganz Deutschland und in den Ländern, die zu Deutschland gehalten haben, alle Schienen abzumontieren. Sie werden zu uns gebracht und hier verlegt. Nach unserem Sieg können die Deutschen ja dann, wenn sie wollen, bei uns Schienen kaufen oder sie gegen Lebensmittel eintauschen!“
    Dobrynin hörte zu und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
    „Jetzt hole ich uns Tee!“ Der Leiter sprang hoch und eilte aus den „Gemächern“. Offenbar fürchtete er, dass die Gäste sich vielleicht schon schlafen legen wollten; solange sie aber mit ihm Tee tranken, konnten sie noch ein wenig weiter reden.
    So geschah es auch. Dobrynin und Waplachow legten sich erst gegen Morgen schlafen, und natürlich verschliefen sie dann das Frühstück. Erst zum Mittagessen standen sie auf.
    In der Kantine des Eisenbahnerkollektivs waren sie die einzigen Esser. Die Frau, die ihnen ihre Teller mit Brei durch das schmale Fenster der Essensausgabe schob, staunte, als sie hörte, dass zwei Portionen verlangt wurden.
    „Sie sind nicht mit weggefahren?“, fragte sie und versuchte dabei, ihre Gäste genauer zu mustern.
    „Nein“, antwortete Dobrynin ihr kurz. „Wir warten auf den Zug nach Moskau!“
    „Ah, ihr wartet auf den Verschiedenäugigen!“, sagte sie. „Ich verstehe …“
    Als er am Tisch saß und seinen nunmehr vom Rost gänzlich befreiten Löffel aus der Tasche zog, fiel Dobrynin wieder ein, was die Köchin gesagt hatte. Er überlegte, dass ‚der Verschiedenäugige‘ wohl der Name des Lokführers sein musste.
    An der Stelle erschien noch ein Mann in der Kantine, stämmig, mit einem Schnurrbart und einem breiten und flachen Gesicht. Er nahm seinen Teller mit Brei und setzte sich, ohne zu fragen, an den Tisch zu ihnen.
    Dobrynin wartete darauf, dass der Mann zu reden anfangen würde, dieser schlang jedoch, ohne seine Tischnachbarn zu beachten, den Brei hinunter und ging.
    Später erfuhr Dobrynin von Leiter Kosolobow, dass der Mann, der sich zu ihnen gesetzt hatte, der Funker gewesen war. Weiter erfuhren sie auch noch, dass er eine Gehirnerschütterung erlitten hatte und nicht ganz normal war. Gelegentlich schrieb er Briefe an seinen vor langer Zeit gestorbenen Großvater und verschickte sie per Funk an alle. Sie hatten schon drei Mal die Anordnung erhalten ihn zu entlassen, aber einen anderen Funker hatte man ihnen nicht geschickt.
    „Außerdem“, sagte Kosolobow, „redet er nicht. Als der Krieg ausbrach, hat er sich selbst die Zunge abgebissen, damit sie ihn nicht an die Front holten. Sie haben ihn trotzdem geholt, und trotzdem hat er Glück gehabt. Die Feinde haben den Zug zerbombt, mit dem er zur Front unterwegs war. Fast alle sind ums Leben gekommen, aber er hat nur eine Gehirnerschütterung davongetragen. Jetzt sitzt er hier und schreibt seine Briefe.“
    Am nächsten Tag, als Dobrynin und Waplachow hinunter in die Kantine gingen, saß der Funker bereits beim Essen. Der Volkskontrolleur und der Urku-Jemze holten bei der Köchin ihre Teller und setzten sich schweigend zu ihm an den Tisch. Das hatte Dobrynin so beschlossen, womit er Achtung und zugleich Selbstachtung zeigen wollte. Wiederum aßen sie schweigend und trennten sich.
    Später schaute irgendwann der Leiter zu ihnen in die „Gemächer“ herein.
    „Na, wie war das Essen?“, fragte er freundlich. „Nach dem Essen müsst ihr unbedingt ein Stündchen ruhen. Damit ihr euch hier auch wie im Sanatorium fühlt.“
    Nachdem er noch fünf Minuten über alles und nichts geredet hatte, richtete er plötzlich eine Bitte an Dobrynin. Die Bitte bestand darin, dass er am nächsten Morgen eine Arbeitskontrolle bei der Köchin des Kollektivs durchführen sollte, es kam Kosolobow nämlich so vor, als sei Butter aus dem Brei verschwunden.
    Zur Frühstückszeit, als die Köchin gerade zwei Teller durch das Fenster schob, traten der Leiter und Dobrynin mit seiner Vollmacht in ihre Küche. Waplachow stand in der Kantine und verdeckte das Ausgabefenster. Nachdem sie die Vollmacht des Volkskontrolleurs gelesen und erfahren hatte, worum es ging, brach die Frau in Tränen aus und begann zu versichern, dass das, bei Gott, nie mehr vorkommen werde. Und als der Leiter die strengen Strafen zu Kriegszeiten erwähnte, fiel die Köchin zu Boden, zog aus irgend­einer Schublade eine Stange Butter von wohl acht Kilogramm, legte sie in die Hände des Kommandanten und

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