Der unersättliche Spinnenmann
muss Krebs sein. Sie wird wohl bald sterben. Die Familie auf der anderen Seite: Sie kommen sprichwörtlich um vor Hunger, haben aber Tausende Pesos bei sich versteckt, weil sie total geizig sind. Die andere Nachbarin ein Stückchen die Straße runter ist verbittert, seit ihr Mann sich aufgehängt hat, aber im Viertel heißt es, dass ihre Habgier ihn zwang, so hemmungslos zu klauen, bis ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als sich aufzuhängen.
Und so geht’s weiter. In allen Einzelheiten. Ihre Sensationsnachrichten schließen auch ein paar Tote ein, die ihr alle naslang erscheinen. Sie beschreibt es so genau, dass ich ihr glaube. Es scheint ganz so, als sähe sie diese Zombies wirklich. Ich würde mir in die Hose machen, wenn das mir passierte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mit Scheiße und allem Drum und Dran. Sie nicht. Sie akzeptiert das, als wär’s die natürlichste Sache der Welt.
Doch normalerweise hält sie sich nicht lange bei der spiritistischen Folklore auf und kommt zu den Tragödien zurück. Sie ist wie ein Katastrophenradar, erzählt mir von Vettern und Onkeln, deren Leben vom Alkohol zerstört ist. Von einem anderen, dem die Schwestern – auf wohl erzogene und politisch korrekte Weise – das Dach über dem Kopf weggenommen haben, als sie ihn aus dem Haus warfen, das sie von den Eltern erbten. Obwohl die Eltern noch gar nicht tot sind, haben sie schon alles erledigt, um keine Zeit zu verlieren. Ein anderer Vetter, der irgendeine Sendung macht und im Fernsehen politische Kommentare spricht, scheint langsam verrückt zu werden. Eine ihrer Nichten, deren Mann langsam an Leberzirrhose krepiert, überlebt wer weiß wie inmitten entsetzlicher Armut in ihrem kleinen Häuschen auf dem Land.
All das ist wirklich so. Ich weiß, dass sie nichts erfindet oder übertreibt. Die Familie ist riesig, alles ziemlich kaputt und grenzwertig. Zwei Stunden halte ich das aus. Dann kann ich nicht mehr und explodiere:
»Verdammt noch mal, Alte, du machst mich wahnsinnig! Erzähl mir nicht noch mehr Tragödien! Soll’n sie doch verhungern oder nach Miami abhauen oder die Regierung stürzen, keine Ahnung! Ich hab auch zwanzigtausend Probleme und geh nicht damit hausieren.«
»Ach, mein Sohn, das sind keine Tragödien. Das Leben ist einfach inzwischen so. Die Leute sind bettelarm und wissen nicht, wie sie an Geld kommen sollen, und …«
»Halt, halt. Verdammt! Halt! Das ist ja die Hölle. Ich komm hierher auf der Flucht vor meiner Nachbarin, dieser teuflischen Alten, und du bist noch schlimmer!«
»Ach, mein Sohn, Gott möge dir verzeihen. Ich bin deine Mutter, nenn mich nicht teuflisch.«
Und dann kommen ihr die Tränen. Sie heult wie ein kleines Kind. Rotz und Wasser. Ich lass sie sich ausweinen, gehe in den Garten und setz mich in den Schatten des Flamboyants. Ich brauch was zu trinken, überlege, ob ich mir ein bisschen Rum holen soll. Ich bin so geladen, dass ich mir am liebsten selbst ein paar runterhauen würde. Da sehe ich Daymí. Sie geht langsam vor dem Haus vorbei. Diese Frau gefällt mir. Sie ist groß, schlank, dunkel und hat sehr schwarzes Haar. Eine schweigsame Frau von zweiunddreißig Jahren. Nie lächelt sie. Sie hat ein männliches Gesicht, sieht wie ein Junge aus. Ich mag sie sehr. Ihr Ausdruck ist heiter und ruhig, so als könne sie nie aus der Haut fahren. Was ich am meisten an ihr mag, sind ihre Füße. Sie hat sehr schöne Beine, aber ihre Füße sind riesig und kräftig, lang und muskulös, mit großen Zehen und Zehennägeln. Sie trägt Schuhgröße zweiundvierzig. Ich trage sechsundvierzig. Ich hab ihr das schon mal gesagt:
»Ich fahr total auf deine Füße ab. Wenn du meine Frau wärst, würde ich ein Gedicht drüber schreiben.«
»Das glaub ich dir nicht.«
»Warum?«
»Das sind doch keine Frauenfüße. Ich krieg nicht mal passende Schuhe, die muss ich mir machen lassen.«
»Das ist doch kein Problem. Mir gefallen sie sehr.«
»Du machst dich über mich lustig. Das sind Männerfüße.«
»Mir gefallen sie. Deine Füße machen mich richtig an.«
Sie senkte die Augen. War wohl ein bisschen verlegen. Sie ist eine dieser Frauen, die kaum oder gar nicht reden. Sie arbeitet in Cafeterias und kleinen Restaurants und hat einen fünfjährigen Sohn. Ihr Mann ist im Gefängnis, sie haben ihm zwölf Jahre aufgebrummt. Vier hat er schon abgesessen. Sie haben ihn in einem Haus in Camagüey geschnappt, mit Kokain. Es hieß, er sollte ein Päckchen nach Havanna bringen und für den Job
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